Freitag, 15.12.2017: Stuttgart – Wie alles beginnt

Ich schaue im Spiegel den Himmel an, der wie helles, freundliches Silber strahlt. Vor ihm – dem Himmel – zeichnet sich dunkelgrau und fein ziseliert die riesige Fichte aus dem Garten der sonderlichen Nachbarsfamilie ab. Es ist noch früh für einen Dezembertag, kurz nach acht Uhr morgens. Vor der Balkontür haben wir wie jeden Abend zwei Plastikkisten geparkt, zum Schutz vor unserer Katze, die ansonsten gerne nachts mit den Vorderpfoten gegen die Scheibe trommelnd Einlass begehrt. Nun hat sie sich hoch gestreckt, und auf der niedrigeren Kiste abgestützt blickt sie herein, murkelt und mäht und begehrt wiederum: Einlass! Sie wird nörgelig auf ihre alten Tage, unsere Kalas.

Ich bleibe noch ein Weilchen im Bett, schlürfe den Espresso, den mein Mann Nikolaus mir gebracht hat und schaue den Worten zu, die aus meinem Kopf heraus drängen und sich auf dem Berberteppich ausbreiten. Gegen halb neun erstrahlt kurzfristig die Sonne an einem Rokokohimmel und lässt die gegenüberliegenden Weinberge aufleuchten. Ich erhebe mich vom Tatami, baue die Kistensperre ab, und Kalas rennt herein.

Auf dem Damenklo denke ich an das Buch, das ich gerade lese, Boris Vians L‘Écume des jours, der Schaum der Tage, und überlege, warum französische Tage schäumen, während unsere leuchten, sofern sie nicht gerade in Wasser ersaufen, durch das Blitze rasen und alles elektrifizieren – wir wohnen ganz in der Nähe der Blitzhauptstadt Baden-Württembergs, Esslingen. Die Antwort kenne ich noch nicht. Neben mir fliegen Pinguine durch eine winterliche Stadtstraße, während ein Spießer im Sessel sitzt, Sherry schlürft, Zeitung liest und von all dem nichts mitbekommt. Nur sein Kater verfolgt den Vogelschwarm aufmerksam vom Fenster aus.

Ich gehe zum Schreibtisch zurück und sammele die Worte ein, damit sie nicht im Berberteppich versinken und unauffindbar würden. Dann beginne ich die allmorgendliche Morgenyogagymnastik, knurre und schnurre wie ein Luchs, brumme und schmatze wie eine Braunbärin, schreie wie ein Gerfalke, pfeife wie ein Murmeltier und zische wie eine Kreuzotter. Einen Großteil meiner morgendlichen Übungen mache ich auf dem Balkon, diesmal beobachtet von einigen Tauben. Taubentag.

Es folgen Waschen und Anziehen, dazu ein Morgenmantra mit meinem Spiegelbild – Selbstliebe.

Mein Frühstück besteht wie meistens aus selbstgemischtem, veganem, ungezuckerten Biomüsli, diesmal verziert mit Walnüssen und Gala-Äpfeln. Zwei Kerzen des Adventskranzes sind bereits angebrannt: Die grüne für den Frühling und die gelbe für den Sommer. Ich lausche dem Radio. Eine hohe Frauenstimme, Klavier und Schlagzeug, Maria Joao. Sphärisch. Die Woche der portugiesischen Musikgeschichte näherte sich ihrem Ende, und mit meinen Augen atme ich einen Blick auf die Unendlichkeit. Das letzte Stück klingt ein wenig wie „Yes, Sir, I can boogie“, nur viel, viel weicher, portugiesisch eben. Eine schöne Sprache, ich liebe die Js. Dann kommen die Nachrichten. Die wichtigste dreht sich um die Frage, ob wir eine Groko oder Koko oder keine von beiden bekommen. Die Welt steht also noch, und ich schalte ab.

Warum Bio, warum tierfettfrei und damit quasi-vegan? Weil ich unter anderem Rheuma habe, in der Theorie zumindest. Ich fing an mit höllischen Schmerzen und 50 Milligramm Cortison pro Tag. Nichts könne ich gegen die Krankheit tun, sagte der Facharzt mir damals, außer seine Medikamente schlucken. Inzwischen bin ich fast immer schmerzfrei und nehme gar kein Cortison. Ich liebe Käse, esse im Alltag aber nur ab und an Harzer und Magerquark. Eiweiß ist erlaubt, Magerjoghurt und Honig auch. Manchmal packt mich die Lust auf mehr – und dafür rächen sich dann meine Schmerzen anderntags an mir, lustvoll. Sie gehören nicht zu meiner Vorstellung von Glück, genauso wenig wie Knochen zerstörendes Cortison. Deshalb bin ich ziemlich konsequent. Die meisten Rheumatiker in Deutschland haben größere Angst vor veganem Essen als vor den Schmerzen. Auf jeden Fall alle, die ich bisher kennengelernt habe. Ist es die Angst vor dem Neuen, Unbekannten? Zum Glück gehört ein ganz klein wenig Wagemut.

Nun heißt es wie jeden Tag lernen für die Heilpraktikerinnen-Prüfung. Welche Krankheiten darf ich nicht behandeln? Die Pest zum Beispiel, Yersinia pestis. Links von mir, neben dem Foto meines im Januar verstorbenen Vaters, lehnt das Bild eines venezianischen Pestarztes, Schnabelmaske, Brille und schwarze Verhüllung. In dem Schnabel befanden sich stark duftende Pflanzen wie Lavendel, während in unseren Breiten eher die Engelwurz Einsatz fand. Heute ist der Medico della Peste eine Maske im venezianischen Karneval. Ich bin nicht traurig darüber, dass ich keine Pestärztin werde, sondern nur Heilpraktikerin, die großen Übel in unserer westlich-kapitalistischen Zivilisation sind heute eher schleichend-chronischer Natur, Herz-Kreislauf-Probleme, Krebs, Diabetes, Allergien und eben Rheuma – Krankheiten, die viel mit unserer Einstellung zum Leben und zum Glück zu tun haben.