Sonntag, 19.8.2018: Im Dornröschenschlaf – Das Stuttgarter Bohnenviertel

Eingezwängt zwischen der vielstspurigen Hauptstätter- und der ebenfalls dicht befahrenen Olgastraße, nach dem Zweiten Weltkrieg dank der autoaffinen Stadtplaner von Schlossgarten und Königstraße ebenso chirurgisch sauber abgetrennt wie die Stuttgarter Museumsmeile, ist der einzig erhaltene Teil unserer historischen Altstadt von vielen vergessen worden.

Schon im 15. Jahrhundert entstand das Bohnenviertel als erstes Wohnquartier außerhalb der Stadtmauer. Benannt wurde es nach den Kletterbohnen, die die hier ansässigen kleinen Handwerker und Weinbauern in ihren Gärten anpflanzten und die girlandenartig an den Häusern hingen. Bohnen sind im Bohnenviertel inzwischen selten geworden, doch sein Charme hat sich erhalten, und auch die neueren Bauten passen sich zumeist behutsam seinem Flair an.

Mich verbindet viel mit diesen wenigen Straßenzügen: Sie gehörten mit zum ersten, was mir meine Vorgängerin bei Thieme zeigte, die gerne in Ruhestand gehen wollte, sich aber nicht sicher fühlte, ob ich als Neubürgerin der Stadt wohl treu bleiben würde. Nun, ich bin geblieben, mittlerweile seit dem 1. April 1997 – und das war kein Aprilscherz.

Ich denke an den koscheren New Yorker Kollegen, der dringend von mir wissen wollte, wo das Stuttgarter Rotlichtviertel liegt – hinter der Leonhardskirche, vom Bohnenviertel aus gesehen. Wir fanden es nicht.

Ich denke an die ersten katholischen Kita-Erfahrungen unserer Tochter Lenja in der Olgastraße – zumindest bis zu ihrem dritten Geburtstag positiv, erst danach waren wir froh, als wir endlich einen Montessori-Kindergartenplatz für sie auf der Waldau ergatterten. Aber zuvor haben wir noch mitgeholfen, die Fassade der „Wilden Hilde“ mit Mosaiken zu verschönern, mein heutiger Mann Klaus hat das Clownsgesicht gestaltet, ich die rote Spirale auf grünem Grund.

Ich denke an meine Ausbildung zur Märchenerzählerin durch den Stuttgarter Märchenkreis – sie fand in den Räumlichkeiten des Waldorfkindergartens Allerleirauh statt, in der Rosenstraße. Auch so ein verzaubertes und verwunschenes Mädchen, die Allerleirauh, ebenso wie Dornröschen und das ganze Viertel.

Ich denke an die Hochzeit mit Klaus und Lenja (die tatsächlich die Heiratsurkunde mit unterschreiben durfte) – wir feierten am Valentinstag 2014 im Zauberlehrling ebenfalls in der Rosenstraße, einem der besten Restaurants Stuttgarts.

Ich denke an meine Suche nach einer passenden Lokalität für mein geplantes Kräutercafé – eine Zeitlang glaubte ich, es im Bohnenviertel gefunden zu haben, aber der verlangte Preis war zu hoch.

Das Bohnenviertel ist wunderbar kreativ, hier gibt es Goldschmiede mit ganz ausgefallenen Ideen, in der Olgastraße einen der schönsten Blumenläden Stuttgarts, schräg gegenüber die „Pappnase“, ein Laden für Jonglier- und Zirkusbedarf. Verschrobene Antiquitätenläden, kleine Modeateliers, das Café Königx als altgediente Institution im blaugoldenen Design und selbstverständlich das Stuttgarter Schriftstellerhaus in der Kanalstraße, in dem Stipendiaten wohnen und regelmäßig Lesungen stattfinden, die nächste am 14. September über die Literatin Annette Kolb.

Und es gibt Mooswände (s.o.), die die Stadt Stuttgart am Charlottenplatz aufgestellt hat, um das Feinstaubs Herrin zu werden – freundlicherweise gleich mit Holzbänken versehen.

Am anderen Ende des Bohnenviertels, am Schellenturm, wird Glück gewünscht. Es ist ein hübsches Fachwerkgebäude, leider mit düsterer Vergangenheit – früher diente es als Gefängnis.

Auch heute entdecken wir etwas Neues: das Bistro-Restaurant „Die Wunderkammer“, mit viel Bio im Angebot. Wir sitzen daußen unter bunten Südsee-Bast-Sonnenschirmen und genießen unter anderem eine „Morgenfreude“ (das ist ein Croissant mit Aprikosenmarmelade) und eine hausgemachte Himbeerlimonade. Dass ich Veganerin bin, bereitet überhaupt keine Schwierigkeiten, der Papaya-Mango Salat mit Cashewkernen, Koriander, geröstetem Sesamöl und Stauferico-Schinken mit hausgemachtem Bananenbrot wird einfach ohne den Schinken serviert und ist extrem lecker. Und dass die Südcola vom Hersteller mit Vitamin C angereichert ist, dafür können sie nichts. Dazu eine sehr nette Bedienung (Simone) nebst einem jungen Mann mit schönen Hosenträgern. Wir freuen uns, wenn Ihr unsere Wunderkammer ein Stück glücklicher verlasst, als Ihr hineingegangen seid“, schreiben sie auf ihrer Webseite – und das tun wir tatsächlich: https://www.wunderkammer-stuttgart.de/

Samstag, 18.8.2018: Sternenjäger

Gestern waren mein Mann Klaus im Lubitsch-Saal des Stuttgarter Delphi Arthaus Kinos und haben einen wunderbaren Dokumentarfilm gesehen – Sternenjäger. Sternenjäger, das sind eine Handvoll Männer und eine Frau, die sich der Astrofotografie verschrieben haben – Fotos vom Nachthimmel, oder aber, als Schattenjäger, der Fotografie von Sonnenfinsternissen.

Der ungetrübte Blick in den Sternenhimmel ist im Zeitalter extensiver Beleuchtung nur in den entlegensten Gegenden möglich – in Stuttgart sehen wir nur sehr wenige, helle Sterne am nächtlichen Himmel. Die international renommierten Astrofotografen im Film zieht es deshalb an Orte, an denen das Licht unserer Zivilisation die Sterne nicht verblassen lässt: Sie gehen auf die Jagd nach Meteoritenschauern in den australischen Outbacks, sie reisen auf der Iceroad zu den Polarlichtern Nordkanadas, in die Atacama Wüste und auf die Hochebenen bis über 5000 Meter nach Chile. Weitere Expeditionen führen sie nach Dänemark und ins winterliche Norwegen auf der Suche nach geheimnisvollen Lichtern und zur totalen Sonnenfinsternis auf die indonesischen Molukken. Auf ihren Reisen treffen die Fotografen auf die Ureinwohner der Regionen (wie z.B. die Sami in Norwegen) und erfahren viel über die Bedeutung des Sternenhimmels in deren Kultur, müssen aber auch immer wieder mit vielen Hindernissen und Widrigkeiten kämpfen und verbringen Nächte in der Wildnis. Belohnt werden die Sternenjäger mit unglaublich schönen Landschaften und den atemberaubenden Himmelsbildern, die sie mit ihren Kameras einfangen.

Von solchen Hindernissen und Widrigkeiten kann auch ich berichten, denn bei unserer Januarfahrt auf dem Postschiff von Bergen bis hinauf zum Nordkap vor etwa zwölf Jahren haben wir kein einziges Polarlicht gesehen – der Himmel war einfach immer wolkenverhangen. Mehr Glück hatte ich ungewöhnlicherweise ein paar Jahre früher im September auf Island – zweimal habe ich Nordlichter gesehen, so grün und schön, dass mir die Tränen in die Augen stiegen.

Der jetzige Film lehrt, dass wir eigentlich, von der Voyager aus betrachtet, nur ein weißer Punkt im Weltall sind (wie wichtig können wir dann noch sein?). Oder dass es Dunkelwolken gibt, also Sternbilder, die sich nicht aus den Sternen zusammensetzen, sondern aus der Dunkelheit zwischen ihnen. So entdecken die Chilenen zum Beispiel ein Lama in unserer Milchstraße, und die australischen Aborigines einen Emu. Gemacht aber sind wir alle, Europäer wie Aborigines, aus Sternenstaub, denn ursprünglich ist alles Leben einmal aus den Wasserstoff-Atomen unserer Sonne entstanden. Und ist es nicht wundervoll zu wissen, dass wir: STERNENSTAUB sind?

© des Films Deutschland 2017
freigegeben ab 0 Jahren
Regie: Christian Schidlowski, Rohan Fernando, Hannah Leonie Prinzler, Sebastian Kentner, Johannes Backes
Sprecher: Rufus Beck

Freitag, 17.8.2018: Profane Dinge schön benennen

Erdbeerbus!

 

Die Kommunen machen es uns vor: Sie verpassen den allerhäßlichsten Neubaugebieten die allerpoetischsten Namen, bis hin zum Dornröschenweg, dem Rapunzelplatz und der Schneewittchenstraße.

Profane Dinge schön zu benennen, hat eine lange Tradition und hilft uns, sie besser zu erinnern: Auch im Altertum glaubte man natürlich nicht, dass wirklich ein Löwe und die Kassiopeia über den Sternenhimmel ziehen – aber klingt Kassiopeia nicht viel schöner als „das Himmels-W“ oder Mars als „Planet Nr. 4“?

Wie wunderbar das Prinzip funktioniert, ist mir vor vielen, vielen Jahren auf der Insel Juist klargeworden, als ich nicht den „Geschenkeladen Lucia Bröker“ betrat, sondern den „Erdbeerfisch“, und dort ein Krokodil mit Pumps für den Weihnachtsbaum erstand. Ich habe bisher nur einen Urlaub auf Juist verbracht (das übrigens den schönen Beinamen Töwerland = Zauberland trägt) – aber dass ich in einem Erdbeerfisch war, das weiß ich heute noch (https://www.erdbeerfisch-juist.de).

Ein anderes Beispiel: Meine Familie nennt eine stark mit Hundekot verunreinigte Straße liebevoll-zärtlich „Rue de Bapf“. Wird sie dadurch nicht gleich viel schöner?

Vielleicht ist der oben genannte Erdbeerfisch sogar mit dafür verantwortlich, dass wir, kaum nach Stuttgart-Sillenbuch und in die Nähe der Haltestelle Erdbeerweg gezogen, sofort die Busse der Linie 66 umbenannt haben in Erdbeerbus. Sie schauen genauso aus wie alle anderen Busse ihrer Bauart – aber sie sind seitdem etwas ganz Besonderes für uns. Übrigens haben sie auch einen ganz besonderen Busfahrer, Jürgen, der 2017 von uns Fahrgästen für die gesamte Region Stuttgart zum Busfahrer des Jahres gewählt worden ist.

Was möchten Sie umbenennen?

 

Donnerstag, 16.8.2018: Glücksfarben

Georg Frey, Bildzyklus 2001: Ikonen 4-7, Öl/Metall/Blattgold auf Holz

Meine persönlichen Glücksfarben bestehen aus einer Komposition aus hellgrün-orange-gold-weiß plus ein paar Sprengseln Weihnachtskerzenrot. Deshalb freut es mich, dass im Stuttgarter Karl-Olga-Hospital ganz in der Nähe des Ganges, in dem ich alle paar Tage auf Ergotherapie, Krankengymnastik und Lymphdrainage warte, ein Bildzyklus von Georg Frey hängt, der meiner Vorliebe ziemlich weit entgegenkommt. Und um es noch besser zu machen, präsentiert zufällig auch das Krankenhaus-Café ähnliche Farben:

Was aber sind Ihre Favoriten? Der Regenbogen? Das Blau-rot-gelb der Kinder? Pippi Langstrumpfs himmelblau-gelb-weiß?

Kulturell betrachtet, könnte das Thema Glücksfarbe kaum unterschiedlicher empfunden werden:

  • In China und Indien ist Rot die Farbe des Glücks und wird deshalb für Fest- und Hochzeitskleidung verwendet.
  • Bei uns gilt Grün als Glücksfarbe (vor allem in Kombination mit Rot und Gold). Grün steht für Gesundheit, Liebe und Geld.
  • Aber Achtung: Bei unserem Nachbarn Frankreich ist Grün die Unglücksfarbe schlechthin!
  • Auch Gelb symbolisiert nicht nur für die Sonne, sondern auch Heiterkeit, Verspieltheit und Glück. In Asien ist es die Farbe der Glückseligen.
  • Das warme, spaßige, ausgelassene, wilde Orange zählt ebenfalls zu den Glücksfarben.
  • Und selbst das trauernde Schwarz, eigentlich in unserem Kulturkreis eine Unglücksfarbe, bringt Glück, sofern es vom Schornsteinfeger kommt.

Erfreulicherweise sind grün und orange auch tatsächlich die Farben, mit denen ich mich laut Psychotests umgeben soll, ich bin zu 50% ein Sommer- (orange) und zu 40% ein Herbstmensch (grün). Aber wie erfahre ich, ob eine Farbe mich glücklich gemacht hat?:

„Glück ist,
wenn der Verstand tanzt,
das Herz atmet
und die Augen lieben.“
(unbekannter Autor)

Mittwoch, 15.8.2018: Stuttgarter Wahrzeichen – die Stiftskirche

Ist sie das oder doch eher ein Stuttgarter Wahrzeichen, die Stiftskirche in der Innenstadt? Und wie steht es mit dem Fernsehturm? Vermutlich scheiden sich da mittlerweile die Geister.

Ihre Fundamente stammen aus der Romanik, Gotik, Renaissance, Barock und schließlich der Historismus haben das ihrige hinzugefügt. 1944 wurde das Gebäude bei zwei Bombenangriffen stark zerstört (die Kunstwerke im Innern hatte man vorsorglich ausgelagert) und später teils stark vereinfacht wieder aufgebaut. Nun liegen hier wieder die Statuen verschiedener Herren und Damen, die Damen selbstverständlich kleiner und niedriger als die Herren, niemand lächelt, sie sind ja auch tot. Das alles berührt mich deutlich weniger als die Renovierung von 1999 bis 2003. Wikipedia schreibt dazu:

Begründet durch statische und akustische Probleme mit der Bausubstanz aus der Nachkriegszeit begann im Jahre 1999 ein Umbau des Innenraums der Kirche. Nach einem Entwurf des Hamburger Architekten Bernhard Hirche wurde die Tonnendecke durch eine neue Deckenkonstruktion ersetzt, die einerseits den in der Nachkriegszeit bewusst vereinheitlichten, in eigenständigen Formen neu aufgebauten Kirchenraum bewahrt, andererseits die historische Dreischiffigkeit und die Netzgewölbekonstruktion der alten Stiftskirche in moderner Weise zitiert. Die vor allem für Orgelkonzerte benötigte Nachhallzeit wird bei der neuen Decke durch eingespannte Akustiksegel aus Glas verbessert. (…) Nach einer Bauzeit von vier Jahren wurde die Stiftskirche am 13. Juli 2003 wieder ihrer Bestimmung übergeben.“

Diese Akustiksegel aus grünem Glas vor weißem Hintergrund, dazu das Silber der Orgelpfeifen – sie geben der Kirche eine fast schon ätherische Leichtigkeit, die sich hoffentlich auf meinem Foto erahnen lässt. Wunderschön!

Dienstag, 14.8.2018: Von der Schönheit des Widerstands

Stuttgart-Sillenbuch: Martin-Luther-Kirche und Anna-Haag-Platz

Einen größeren Gegensatz könnte es fast nicht geben: Im Hintergrund die evangelische Kirche unseres Stadtteils, 1933 unter Hakenkreuzfahnen eingeweiht, im Vordergrund der nach der Sillenbucher SPD-Politkerin und Pazifistin benannte Anna-Haag-Platz.

Vor 1933 mussten die Sillenbucher sonntags hinunter nach Rohr-acker, um Gott zu dienen. Besonders eifrig waren sie nicht und galten deshalb als ziemlich gottlos. Doch dann kamen die Nazis und alles wurde gut. Im Buch von Christian Glass, „Sillenbuch & Riedenberg“, heißt es:

“Immerhin ist (NSDAP-)Ortsgruppenleiter Karl Dreizler seit 1927 Kirchengemeinderat. Als Landesbischof Theophil Wurm die Martin-Luther-Kirche fünf Monate nach der Machtübernahme der NSDAP einweiht, ist ganz Sillenbuch mit Hakenkreuzfahnen geschmückt.“

Wie anders Anna Haag, seit 1926 Stuttgarterin. Mitte Juni 1940 beginnt sie ein Tagebuch, das sie unweigerlich den Kopf gekostet hätte, hätten die Nazis es entdeckt. Ja, ihr Widerstand ist nur ein innerer, heute 500 Seiten eng mit Schreibmaschine betippt, damals handgeschrieben und versteckt. Aber immerhin, besser als Mitläufertum und die Behauptung, man hätte von der Ermordung der Juden erst 1945 erfahren. Auszüge aus ihrem Tagebuch sind auf dem Anna-Haag-Platz zu lesen, umrahmt von Lavendelbüschen.

Wenn auch während der Nazizeit nur im inneren Widerstand, mutig war sie doch, die Anna Haag: Kaum war der Krieg zu Ende, trat sie schon 1945 wieder der SPD bei und begann, sich erfolgreich politisch zu engagieren – zu einer Zeit, als das für Frauen noch mehr als unüblich war. Wikipedia schreibt:

Anna Haag engagierte sich nach dem Zweiten Weltkrieg für den Wiederaufbau Stuttgarts und setzte sich für die politische Bildung von Frauen ein. So war sie unter anderem Mitglied des Städtischen Beirats der Stadt Stuttgart und Mitbegründerin der Arbeitsgemeinschaft Stuttgarter Frauen. (…)

1946 wurde Haag in die Verfassungsgebende Landesversammlung und anschließend in den ersten Landtag von Württemberg-Baden berufen. Sie war eine von nur zwei Frauen (sic!). Mitglied blieb sie bis 1950.

Anna Haag engagierte sich für die Anerkennung der Hausfrauenarbeit als vollgültige Arbeit und für die Ablehnung des Kriegsdienstes mit der Waffe. Der Satz „Niemand darf zum Kriegsdienst mit der Waffe gezwungen werden“ aus dem von ihr eingebrachten Gesetz Nr. 1007 des Landes Württemberg-Baden wurde – leicht abgeändert – später in das Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland aufgenommen („Niemand darf gegen sein Gewissen zum Kriegsdienst mit der Waffe gezwungen werden“, Art. 4 Abs. 3 GG).“

Auch Anna Haag ist ein leuchtendes Beispiel dafür, dass Optimistinnen länger leben – sie wird 94 Jahre alt und lebt bis zum Schluss getreu ihrer Maxime:

Um eines Altersglückes willen darf der alte Mensch seine Altersweisheit, die zu neunzig Prozent aus Milde allem menschlichen Irren gegenüber besteht, auch auf sich selbst anwenden. Er braucht seine Fehlleistungen und Irrwege nicht wegzuleugnen. Aus der Freude an geistiger Ehrlichkeit, wiederum ein Vorzug des Alt-Seins, kann er zu seinem Leben, gewoben aus Freuden und Leiden und durchschossen von Irrtümern und Fehlleistungen, sagen: Trotz alledem, ja!“

Montag, 13.8.2018: Reisenotizen zwischen Bonn und Stuttgart

Blick von Bonn über den Rhein aufs Siebengebirge

Im orange-rosa Morgengrauen, kurz vor halb sechs, wache ich Gästezimmer meiner Bonner Freundin auf. Eine meiner sieben Perseiden-Sternschnuppen, die „Gesundheit“, scheint schon gewirkt zu haben: Ich brauchte für die Nacht kein Opiat und bin damit auf dem Weg des Ausschleichens der Schmerzstiller ein gutes Stück weitergekommen!

Draußen beginnt es zu regnen, eine Wohltat für die Natur. So mache ich einen Teil meiner Morgengymnastik im Zimmer und lasse mich nur für das letzte Viertel vom Himmel berieseln, bevor ich mich unter die Dusche stelle, anziehe und anschließend mit Qi-Gong-Kugeln (chinesisch, Metall mit Glocken darin) meine rechte Hand trainiere. Im Haus ist noch alles still, und ich versuche, eine Gemeinnützigkeitssatzung für unser Ökoglückshaus im thüringischen Greiz zu entwerfen.

Später, nach dem Frühstück mit exotisch verpacktem Bio-Schwarztee aus Georgien, machen wir noch einen Spaziergang ans Bonn-Plittersdorfer Rheinufer, denn wie sagt meine Freundin so richtig: „Man kann nicht Bonn besuchen, ohne am Rhein gewesen zu sein.“

Nach einem kleinen Mittagessen und selbst gesammelten und -gekochten Zinnkrauttee brechen wir zum Bonner Hauptbahnhof auf. Hier heißt es Abschied nehmen, auch von meiner Tochter Lenja, die noch bis Samstag in Bonn bleiben wird.

Mein Zug hat verzeihliche zweiundzwanzig Minuten Verspätung (Notarzt-Einsatz). Zum Ausgleich gönne ich mir einen doppelten Espresso und ein Laugengebäck mit Vitamin-E-reichen Sonnenblumenkernen, die zudem mehr Eiweiß enthalten als ein Steak. Im Intercity werde ich mit der saubersten IC-Toilette aller Zeiten belohnt, sie blitzt richtig. Und mit einem freundlichen Schaffner, der anstandslos akzeptiert, dass ich statt meiner Bahncard 25 nur eine Fotokopie vorweisen kann (ich erinnere mich genau, wo zu Hause ich das Original liegt). Und mit einer Rückfahrt wieder auf einer der neun schönsten Bahnstrecken Deutschlands, durch das Mittelrheintal – diesmal sogar mit einem Fensterplatz in Fahrtrichtung auf der flusszugewandten Seite. An Orten vorbei, die so verwunschen heißen wie Namedy, Urmitz, Spay, und natürlich Loreley-Felsen und Bacharach, das mich immer an Heinrich Heines Rabbi erinnert. Heute ist definitiv ein Glückstag, womit schon eine weitere wunderschöne Sternschnuppe mir einen Wunsch erfüllt hat!

Nach Bingen fange ich an zu lesen. Meine Freundin hat mir zum Geburtstag eine Ausgabe der französischsprachigen Zeitschrift „écoute“ geschenkt. Darin gibt es eine nette kleine Fortsetzungsgeschichte von Élisabeth Fétizon, „Das Rätsel von Saint-Trémeur“, aus der ich einen kleinen Ausschnitt hier übersetze, weil er so gut zum Thema dieses Blogs passt:

Mme Dreau kam vor dieser Kapelle aus dem 15. Jahrhundert an und war wie jedes Mal bewegt von ihrer Schönheit. Die Einfachheit der Kapelle mit ihrem langen, niedrigen Kirchenschiff und ihrem zerbrechlichen Kirchenturm, der sich gegen den Himmel erhob, war von einer seltenen Eleganz. Die alte Dame näherte sich einer Tür aus rotem Holz, die schön mit dem weißen Turm des Gebäudes kontrastierte.“

So geht Schönheit also auch!

Sonntag, 12.8.2018: Bonn und Brühl – Wasserspiele, Weltkultur und die Perseiden

Meine Tochter Lenja und ich besuchen meine Freundin und ihre Familie in Bonn. Ich bewohne das oberste Stockwerk ganz für mich allein und werde schon frühmorgens von einem Heißluftballon begrüßt, der ganz in der Nähe über den Himmel schwebt (einmal stundenlang mit solch einem Ballon fliegen!). Nach einem ausführlichen Frühstück machen wir uns auf Richtung Köln, nach Brühl. Zunächst aber legen wir wegen einer Zugverspätung (Menschen auf den Gleisen) einen kurzen Zwischenstopp an der Bonner Museumsmeile ein, eine Kapelle spielt und die Kinder vergessen ihr gesetztes Alter von elf und vierzehn Jahren und rennen durch die Wasserspiele, bis sie pitschnass sind. Das soll das großartigste Erlebnis des Tages für sie werden!

Schloss Augustusburg und Schlossgarten in Brühl sind dermaßen schön, dass sie zusammen mit nur 844 weiteren Bauwerken auf der ganzen Erde zum UNESCO-Weltkulturerbe gehören – eines der bedeutendsten Bauwerke von sowohl Barock als auch Rokoko in ganz Deutschland. Heute wollen wir nur die Außenanlagen bewundern, teils strenger Barock, teils englische Landschaft, Gartenkunst vom Feinsten jedenfalls. Wir entdecken einen Jardin Secret, einen geheimen Garten, und genießen dort Espresso und Kuchen im Café mobil.

Im nahe gelegenen Max-Ernst-Museum können wir die Werke des Dada- und Surrealisten bestaunen sowie eine Sonderausstellung über Robert Wilson, „The Hat Makes the Man“. Besonders gefällt mir eine Kachina-Mickey-Mouse und eine Installation aus einem Video mit Schneeeule vor gepunkteter Tapete, umrahmt von einer schwarz-weiß-Tapete aus hunderten von identischen Fotografien des Künstlers und Federumhängen aus der Südsee. Und, ach ja, blaue Vögel, die in der Luft schweben. An den Werken Max Ernsts wiederum gefällt mir der Unernst, der Humor, das Spielerische. Ich habe Surrealisten bisher eher als düster und beängstigend empfunden, nun lerne ich eine Facette kennen, vielleicht den Dada-Anteil Ernsts.

Max Ernst, Capricorn, 1948

Gefragt nach der Interpretation seines berühmtesten bildhauerischen Werks, Capricorn = Steinbock, soll er scherzhaft gesagt haben, es sei ein Portrait seiner Familie. Ach ja, und hier gibt es auch eine Verbindung zu Robert Wilson, denn mit den Kachina-Elementen der Hopi-Indianer ist dieses ebenfalls versehen.

Auch auf der Rückfahrt hat der Zug Verspätung, und so zitiert meine Freundin eine Lebenshaltung, die sie während in London kennengelernt hat: „Wir praktizieren jetzt die englische Variante und scheren uns nicht daran, was der Fahrplan sagt: Wir gehen einfach zur Haltestelle und freuen uns, wenn irgendwann ein Zug kommt.“ Allein an diesem Ausspruch zeigen sich schon die 50% Chromosome, die sie von ihrem Vater geerbt hat: Der ist ein hoffnungsloser Optimist und damit inzwischen schon neunzig Jahre alt geworden – bei immer noch recht guter Gesundheit: Denn Optimisten leben länger!

Zu Hause kochen wir ein veganes Risotto mit Weißwein, Artischocken, Stangensellerie, Zitronenschale und frischer Minze, als Vorspeise gibt es Gazpacho vom Vortag und später am Abend Pfirsiche und Weintrauben – köstlich!

Anschließend spielen wir – für mich zum ersten Mal im Leben – das Brettspiel Scotland Yard – ich habe Glück und gewinne zusammen mit den Kindern gegen meine Freundin. Macht spielen glücklich? Mich schon!

Vor dem Schlafengehen schauen wir noch in den Nachthimmel, denn heute soll der Sternschnuppenregen der Perseiden am besten zu sehen sein. Ich bin am ausdauerndsten und werde mit zwei kleinen Schnuppen und fünf ausgewachsenen Kometlein beschenkt. Sieben Wünsche wünsche ich. Große Wünsche.

Samstag, 11.8.2018: Auf nach Bonn!

Heute sind meine Tochter Lenja und ich unterwegs auf einer der neun schönsten Bahnstrecken Deutschlands: dem Mittelrheintal zwischen Bingen und Koblenz – romantisch und sagenumwoben. Hier einmal ein Radtour machen, richtig viel Zeit haben, und nicht nur mit dem Intercity durchsausen und durch das Fenster fotografieren!

Koblenz

Wir wollen jedoch heute – bei immer noch angenehmen Außentemperaturen! – meine langjährige Freundin und ihre Familie in Bonn besuchen. Ich kann nur für zwei Nächte bleiben, aber Lenja wird eine komplette Woche mit ihrer jüngeren Nennschwester verbringen.

Nachdem einer Stunde Mittagsschlaf im Gästezimmer (die Nacht zuvor habe ich komplett durchwacht) treffe ich mich mit meiner Freundin in Bad Godesberg. Wir setzen uns kurz in das „petit bistro & pain francais épi“, das manchmal-nur-heute-nicht auch vegane Küchlein anbietet, ich trinke Bio-Espresso, und dann schlendern wir zur Godesberger Parkbuchhandlung, wo heute eine Lesung mit Barjazz-Begleitung auf dem Flügel stattfindet: „Die Sünden der Frau“, nach dem gleichnamigen Essayband von Connie Palmen, mit Texten von Marilyn Monroe, Marguerite Duras, Jane Bowles und Patricia Highsmith sowie Katherina Waldau als Sprecherin und Andreas Orvath am Flügel. Es ist voll, und es macht Spaß, mal wieder bei einer Lesung in einer schönen Buchhandlung zu sitzen, nach den Büchern im Regal zu greifen, Klappentexte zu lesen und vielleicht etwas Neues, Spannendes zu entdecken. Monroe und die Schriftstellerinnen selbst waren nicht glücklich, mit nicht vorhandenem Vater, schlechtem Verhältnis zur Mutter und Alkoholproblemen, oder, wie John Milton im 17. Jahrhundert behauptete: „Die Glücklichen wurden nie geboren“ – auf diese Frauen traf es zu. Marilyn Monroe meinte zu allem Überfluss, dass Männer nur glückliche Frauen wollen und: „Ich weiß, dass ich nie glücklich sein kann, aber fröhlich kann ich sein.“ Und Arthur Miller sagte ihr: „Du bist das traurigste Mädchen, das ich kenne.“ Marilyn erschrak. Und nahm sich später das Leben (so sie nicht doch ermordet wurde). Aber schön war sie, wunderschön.

Nur einer Frau in den vorgetragenen Texten gelingt es, am Ende so etwas wie Glück zu empfinden: Der Protagonistin in Jane Bowles „Einfache Freuden“, die gerne Kartoffeln im Feuer röstet und schließlich in einem wildfremden Bett aufwacht und vielleicht in ihren schüchternen Nachbarn verliebt ist. Jedenfalls ein neues, reines Gefühl, das sich ihr auftut.

Zurück bei meiner Freundin wird gekocht, sie macht sich viel und erfolgreiche Mühe, für mich etwas Veganes zu zaubern, auch wenn ihr Mann dafür leiden muss: Es gibt köstlichen Gazpacho und einen hinreißenden Linsensalat.

Freitag, 10.8.2018: Perfekter Geburtstag

Ich liebe meine Geburtstage, auch wenn dieser schon der 58. ist – da ich 109 Jahre alt werden möchte, kann ich noch weitere 51 erleben! Weil am 10. August zumeist Sommerferien sind, feiern wir fast immer an irgend einem schönen Urlaubsort. Diesmal sind wir in Stuttgart geblieben: meiner CRPS-Erkrankung und unserer alten Katze Kalas zuliebe.

Das größte und schönste Geschenk erhalte ich gleich morgens beim Aufwachen: Es ist heute zum ersten Mal wieder angenehm kühl – nach der Hitzewelle der Vortage eine Wohltat. Mein Mann Klaus bringt mir Espresso ans Bett, unsere Tochter Lenja setzt sich zwischen uns, und dann packe ich erst einmal Geschenke aus. Nach dem Frühstück mit Kerzenschein und Sonnenblumen-Servietten unternehme ich eine kleine schamanische Reise in den ersten Himmel der Oberwelt, bevor wir den Nachmittag im Kunstmuseum Stuttgart verbringen mit Bio-Sencha-Bloom-Tee, juiz Bio-Rhabarber-Lavendel-Limo im Bistro und natürlich der Sonderausstellung, „mixed realities“, die noch bis zum 26.8.18 zu bestaunen ist. Wie verbinden KünstlerInnen die physisch-reale mit der virtuellen Welt? Und was macht das mit uns? Wie können wir uns in dieser Welt bewegen, ohne dass uns gleich schwindelig wird? Ein einfaches Beispiel für das, worum es in dieser Ausstellung geht, sind die 3D-Brillen, die man manchmal im Kino kriegt. Die gibt es hier auch, aber noch viel mehr. Am meisten fasziniert mich die abu-dhabische Künstlerin mit dem schönen Namen Mélodie Mousset, die uns erlaubt, in einer blau-roten Sandlandschaft Arme und Hände per Knopfdruck auseinander sprießen zu lassen, analog (oder doch eher digital?) zur magischen Hana-Hana-Frucht der japanischen Manga-Serie „One Piece“. Und meine Tochter Lenja? Die ist als zukünftige Mediendesign-Studentin eh begeistert.

Via Charlottenplatz (Weltladen!) laufen wir hoch zum Eugensplatz mit seinem Galateabrunnen – einem der romantischsten Orte Stuttgarts mit einer wunderbaren Aussicht, von der prächtigen Nymphe Galatea ganz zu schweigen. Und nicht zu vergessen: einem Denkmal für Loriots Mops, ohne den ein Leben zwar vorstellbar, aber sinnlos wäre.

Weiter geht es zum Biorestaurant Lässig, direkt an der U- Bahnhaltestelle Heidehofstraße (Freie Hochschule). Hier habe ich einen Tisch für die Familie und meine beiden Freundinnen Maja und Lilian reserviert. Gleich vorab: Das Restaurant ist sehr empfehlenswert, wir verbringen einen schönen Abend bei Kerzenlicht und Blumen im Freien. Ich habe für mich ein veganes Überraschungsessen bestellt und genieße: frisches Brot mit exzellentem Olivenöl, ein Amuse-gueule aus gehackter grüner Melone, Bruschetta und ein Risotto mit getrockneten Tomaten und Pinienkernen, dazu als Aperitif einen alkoholfreien Rosencocktail und später dann alkoholfreies Pils und Espresso – eins wie das andere perfekt!

Meine beiden Freundinnen haben eine arbeitsreiche Woche hinter sich, und so verabschieden wir uns um halb zehn – Klaus, Lenja und ich ziehen allein weiter zur Sternwarte Uhlandshöhe, für uns drei Neuland. Obwohl der Himmel leicht bewölkt ist, haben sich viele Leute eingefunden. Wir sehen den mittleren Stern der Achse der Großen Bärin und erleben, dass er in Wirklichkeit ein Doppelstern ist, später kommt dann Saturn hinzu, weiße Ringe auf weißem Planeten, es sieht unwirklich aus und ist doch so real. Für Klaus und mich ist dies der allerschönste Teil des ungewöhnlichen Tages.