Sonntag, 23.9.2018: Glücklich wie Lazzaro

Eine magische, fast biblische Geschichte in unserer heutigen Zeit. Im Dorf Inviolata (dt. “unangetastet”) im italienischen Lazio, weitab von der Stadt, leben die Menschen in bitterer Armut, betrügerisch ausgebeutet von der Marquesa de Luna (dt. “vom Monde”). Sie verrät den Leuten auf ihrem Gut nicht, dass die Halbpacht schon längst verboten ist und Schulpflicht für die Kinder besteht.

Unter ihnen lebt der Waise Lazzaro, der seine Eltern nicht kennt. Ist er der Halbbruder Tancredis, des Sohnes der Marquesa? Dieser kommt eines Tages aus der Stadt zu Besuch, ein verzogener junger Mann, mit nur einem kleinen Ansatz von Gewissen.

“Menschliche Wesen sind wie Vieh, wie Tiere”, klärt ihn die Mutter über die Dorfbewohner auf. “Sie zu befreien würde bedeuten, ihnen ihre Knechtschaft bewusst zu machen. Ich nutze  sie aus, und sie nutzen diesen armen Kerl aus.” Dieser arme Kerl, das ist der gutmütige Lazzaro, der von allen herumkommandiert wird und buchstäblich alles tut, was man ihm sagt. “Selig sind die Armen im Geiste”, heißt es in der Bibel, “denn ihrer ist das Himmelsreich.” Ist Lazzaro arm im Geiste? Ungebildet ist er auf jeden Fall, und hilfsbereit, und er erfreut sich an seiner Hilfsbereitschaft, und aus seiner Hilfsbereitschaft heraus ist er glücklich. “Vielleicht nutzt er ja niemanden aus”, bemerkt Tancredi zu seiner Mutter.

Als der junge Markgraf mit seinem Schoßhündchen Oreste (“der Bergbewohner”) spazierengeht, bietet Lazzaro ihm seine armselige Brotzeit an. Tancredi lehnt ab, aber vielleicht ist das Essen ja gut genug für das Hündchen? Oreste verschmäht die Brotzeit ebenfalls. Dann aber folgt Tancredi Lazzaro in die Berge (und natürlich muss Lazzaro das Hündchen tragen) in sein Versteck bei den Schafen, wo er sogar ein Luxusgut namens Kaffee hat. Tancredi beschließt, seiner Mutter erneut einen Streich zu spielen und so zu tun, als ob er entführt worden sei – ebenso wie er vorgibt, Lazzaros Freund zu sein. Von nun an hat Lazzaro noch mehr Arbeit, denn er muss nicht nur seine Tagesarbeit besorgen, sondern auch noch Tancredi von dem wenigen, was er hat, mit Nahrung versorgen. Tancredi ist für Lazzaro der erste Freund, und so üben sie zusammen den Wolfsruf, denn in der Gegend gibt es wilde Tiere.

Schlussendlich ruft die Tochter des Verwalters, die sich in Tancredi verliebt hat, heimlich die Carabinieri an, die entsetzt sind über die mittelalterlichen Zustände im Dorf, alle Dorfbewohner befreien und in die Stadt, nach Rom, bringen, während die Marquesa angeklagt und verurteilt wird. Tancredi fährt wohlbehalten mit seinem Schoßhündchen zurück nach Rom. Lazzaro hingegen ist an diesem Tag auf seinem Weg zu dem jungen Adeligen abgerutscht und tödlich verunglückt. Keiner sucht nach ihm, auch Tancredi nicht.

Zwanzig Jahre später erwacht er von den Toten, als eine Wölfin ihn beschnuppert. Er sieht noch genauso aus wie früher, und auch seine ärmliche Kleidung ist noch intakt. Lazzaro macht sich auf den Weg in die Stadt, wo er die früheren Dorfbewohner wiedertrifft. Und während Antonia, damals noch ein Mädchen, vor ihm auf die Knie fällt und das Wunder erkennt, halten die Alten ihn für ein Gespenst oder den Teufel. Es ist so gekommen, wie die Marquesa gesagt hat: Die Menschen sind arbeits- und wohnungslos und überleben nur dank kleiner Diebstähle. Aber nun ist Lazzaro da – und vielleicht gibt es ja doch noch so etwas wie Hoffnung?

Lazarus bedeutet im Hebräischen “Gott hat geholfen”. Im Neuen Testament gibt es zwei Lazarusse: den einen erweckt Jesus nach vier Tagen von den Toten. Den anderen erwähnt er in seiner Parabel vom armen Lazarus, der den Reichen um die Brotkrumen bittet, die von dessen Tisch fallen – was ihm verwehrt wird.

Auch auf die Lazzaroni spielt dieser sehr sozialkritische Film an – die Unbehausten Neapels, von denen es zeitweise über 60.000 gegeben haben soll. Und auf die kapitolinische Wölfin, die ihn ja vielleicht gesäugt, aber auf jeden Fall geweckt hat und sozusagen sein Krafttier ist (während Tancredi nur ein schwächliches Schoßhündchen als Krafttier hat). Auch die Musik ist ein Teil von Lazzaro, sowohl der Dudelsack der Hirten als auch die Orgelmusik, die ihm sogar schlicht und ergreifend aus einer unchristlichen Kirche folgt.

Aber woraus bezieht Lazzaro sein Glück? Die Hilfsbereitschaft habe ich schon erwähnt. Von den Stärken gemäß Martin Seligman treffen folgende auf ihn zu: Soziale Intelligenz, Integrität, Echtheit, Ehrlichkeit, Lauterkeit, Menschenfreundlichkeit, Großzügigkeit, Bescheidenheit, Dankbarkeit, Vergeben.

Insgesamt ein vielschichtiger, wundervoller Film, vielleicht der beste des Jahres (meine Meinung teilt zumindest das diesjährige Jerusalem Film Festival). Das Drehbuch ist ausgezeichnet worden mit der Goldenen Palmes von Cannes. Ich werde mir den Film als DVD kaufen.

Originaltitel: Lazzaro felice
Regie und Drehbuch: Alice Rohrwacher
Kamera: Hélène Louvart
Lazzaro: Adriano Tardiolo
Antonia: Alba Rohrwacher
Italien 2018, 127 Minuten, FSK 12 (6 in Begleitung der Eltern)

Samstag, 22.9.2018: Der Tag vor dem Glück

Der Tag vor dem Glück, das ist für den in einem Felsenkeller versteckten neapolitanischen Mann der Tag vor dem jüdischen Neujahrsfest Rosch ha-Schana. Und so bittet er den Hausmeister, der ihn während der Zeit des Faschismus und der Nazis mit Nahrung versorgt, am folgenden Nachmittag einen Stein in den Golf von Neapel zu werfen – als Bitte um Vergebung der Sünden.

Der Tag vor dem Glück bezeichnet gleichzeitig die Zeit vor der Selbstbefreiung der Stadt: Während der berühmten “Vier Tage von Neapel” (27.-30.9.1943) erhob sich die Bevölkerung, errichtete Barrikaden und vertrieb erfolgreich die deutschen Besatzer, bevor am 1. Oktober 1943 die Amerikaner einmarschierten.

Der Hausmeister ist ein großer Geschichtenerzähler, und so erzählt er einem Waisenjungen, um den er sich kümmert, Jahre später vom Tag vor dem Glück, den Bewohnern der Stadt und seiner Liebe zu Neapel, dem Vesuv und dem Meer.

Der Tag vor dem Glück, das wird für den mittlerweile 18jährigen Waisen der Tag, bevor er das geheimnisvolle Mädchen Anna aus dem 3. Stock wiedertrifft. Schon seit seiner Kindheit ist er in sie verliebt. Nun gehen sie in das frühere Versteck des Juden und feiern ein rauschendes sexuelles Blutfest (das nicht ganz nachvollziehbar und deshalb 2016 mit dem “Bad Sex in Fiction Award” ausgezeichnet worden ist).

Dann ist die geheimnisvolle Anna, die eigentlich mit einem inhaftierten Mafiosi verlobt ist, wieder verschwunden. Der Tag nach dem Glück ist der Tag des Wundenleckens, denn das Mädchen hat den Jungen im sexuellen Rausch fast umgebracht. Er weiß, dass sie nichts für ihn ist, aber er kann sich ihrem Bann nicht entziehen.

Und so weiß er auch, dass er sich auf Camorra-Art mit dem Verlobten Annas auseinandersetzen wird, d.h. mit dem Messer. Dabei ersticht er den Mafiosi und wird vom Hausmeister mit falschen Papieren auf ein Auswandererschiff nach Argentinien gebracht.

Wenn man einmal von der sehr blutrünstigen Sexszene und der Messerstecherei absieht, ist dies ein sehr schönes Buch. Ein Buch der Heimatliebe zu Neapel, das für den Autor schier gar nicht zu Italien gehören mag.

Erri de Luca ist wie seine Protagonisten ein neapolitanischer Autodidakt, der sich sogar selbst das Althebräische beigebracht hat. Er ist mittlerweile mit vielen Literaturpreisen ausgezeichnet und war eines der berühmtesten Mitglieder von Lotta Continua –  einer außerparlamentarischen, linken Gruppierung aus den Zeiten der Studentenbewegung. Nach Auflösung der Gruppe Ende der 70er Jahre lernte ich im norditalienischen Brescia noch mehrere frühere Angehörige kennen, Gianni, Walter, und wie sie alle hießen. Sie stammten wie de Luca aus der Gegend von Neapel (Minori und Maggiori) und betreiben in Brescia zum Beispiel die Pizzeria Positano. Es gibt keine Zufälle. Damals war es der einzige mir bekannte Ort, wo Stehklo und Dusche eins waren (man legte einfach eine perforierte Gummimatte über das Klo). Gianni kürzt sich heute nicht mehr ab, sondern nennt sich Giovanni, die Pizzeria gibt es immer noch, und sie hat sehr gute Rezensionen: https://www.tripadvisor.it/Restaurant_Review-g194702-d8728042-Reviews-Pizzeria_Positano-Brescia_Province_of_Brescia_Lombardy.html

Il giorno prima della felicità, (c) 2009 Erri de Luca
(c) für die deutsche Ausgabe Ullstein Buchverlage GmbH Berlin, ungekürzte Ausgabe im List Taschenbuch 2011/12

 

 

Donnerstag, 13.9.2018: Glückliche Kinder

Heute am Mittagstisch haben wir mit unserer 14jährigen Tochter diskutiert, wie aus einem Kind ein glückliches Kind wird – und später ein starker, glücklicher Erwachsener.

Folgende Punkte sind uns eingefallen:

  1. Glück als wichtigstes Erziehungsziel.
  2. Glückliche Eltern. Wenn Eltern sich dauernd streiten oder sich gar scheiden lassen, sind auch die Kinder unglücklicher. Dabei ist es gleich schlimm, ob die Eltern offen miteinander streiten oder hinter dem Rücken der Kinder (die schlicht einen 7. Sinn dafür haben, dass etwas nicht stimmt). Kinder brauchen Geborgenheit.
  3. Probleme verheimlichen, für die Kinder angeblich zu jung sind, um sie zu verstehen – seien es politische, finanzielle oder gesundheitliche Probleme der Eltern. Auch hier gilt das Prinzip des 7. Sinns. Also besser, sie gleich mit den Kindern besprechen, in einer kindgerechten Form.
  4. Kinder anschreien oder ihnen sonstwie Angst machen, frei nach dem Motto: Ein Klapps auf den Po hat noch niemandem geschadet. Das stimmt nicht.
  5. Kinder bestrafen. Es gibt einen Unterschied zwischen Konsequenz und bestrafen. Wenn ich mein Handy ins Wasser fallen lasse, dann habe ich keins mehr (und kriege auch nicht morgen von Mama oder Papa Ersatz). Wenn ich jemand anderem etwas kaputt mache, dann muss ich es von meinem Taschengeld ersetzen. Das ist Konsequenz. Hausarrest ist eine Strafe – Strafen demütigen anstatt zur Einsicht zu führen.
  6. Inkonsequente Erziehung / Begleitung des Kindes: Ich kenne jedwede Menge Eltern, die irgendwann nachgeben, wenn die Kinder nur lang genug quengeln. Wie sollen aus diesen Kindern je realitätsbewusste, starke und glückliche Menschen werden? Wenn ich dem Kind erklärt habe, dass ich keine Süßigkeiten kaufen möchte, dann muss ich auch standhaft bleiben. Meine Erfahrung: Die zeitliche Länge des Quengelns ist dann zwar beim ersten Mal sehr lang – dafür im Anschluss schon im Kindergartenalter extrem kurz.
  7. Ehrgeizige Eltern. Eltern, denen es wichtig ist, dass ihre Kinder Abi machen und die ständig Hausaufgaben kontrollieren, werden selten glückliche Kinder haben. Ich hatte allen Ernstes in meiner kurzen Zeit als Nachhilfelehrerin zwei Gruppen mit Viertklässlern, die auf Gymnasium gedrillt werden sollten. So ein pädagogischer Unsinn!
  8. Freundschaften. Kinder brauchen Freundschaften – und für Freundschaften brauchen sie Freizeit.
  9. Nichtdirektive Erziehung oder besser: Begleitung des Kindes. Ich bin zum Beispiel eher ein ängstlicher Mensch. Also habe ich die Augen zugemacht, wenn meine Tochter auf Bäume geklettert ist, anstatt es ihr zu verbieten. Auch die Wahl der Schule hat unser Kind selbst getroffen (5,5 Jahre Freie Aktive Schule, 1 Jahr Gymnasium, seit gut 1,5 Jahren Waldorfschule). Nichtdirektiv bedeutet, das Kind in einer vorbereiteten Umgebung alle Entscheidungen selbst treffen zu lassen. Vorbereitete Umgebung, denn eine rote Ampel auf der Straße ist eben eine rote Ampel, und die gilt es zu beachten. Mehr dazu bei Wikipedia: https://de.wikipedia.org/wiki/Nichtdirektive_Erziehung
  10. Das Kind mit der Realität konfrontieren, anstatt ihm eine “Glitzer-Regenbogen-Einhorn-Welt” zu präsentieren, wie meine Tochter den Gegenentwurf nennt. Meine Tochter sagt, dass die reale Welt komplizierter sei, aber sie sie lieber möge – sie ist schrecklicher und schöner zugleich. Das Problem: Die meisten Kinder ihres Alters leben noch in der Pseudowelt.
  11. Das Kind möglichst bewusst durch alle vier Stufen der Entwicklung laufen lassen: Vorsoziale frühkindliche Zeit; die Zeit, an der man sich an den Regeln der Erwachsenen noch gern orientiert; die Zeit des wissenschaftlichen Skeptizismus, der alles Infrage stellt (da ist unsere Tochter schon seit langer Zeit drin); schließlich das Entdecken der Welten der Weisen, jenseits der Wissenschaft (von dieser Welt hat sie bisher nur einige kurze Augenblicke erhascht). Und wer weiß, vielleicht gibt es ja noch eine 5. Stufe danach. Ihr Problem: Ihres Altersgenossinnen sind noch nicht auf Stufe 3 angelangt, siehe Punkt 9.
  12. Kindern Naturerlebnisse ermöglichen – jeden Tag. Wie soll ein Kind, das nicht im Matsch spielen und sich dreckig machen kann, glücklich werden? Vielleicht ist deshalb ein Mädchen aus meinem Bekanntenkreis, das immer adrett und sauber sein sollte, Fußballerin geworden…
  13. Den Kindern erklären, warum Handies und Internet nicht glücklich machen. Meine Tochter kennt diverse Mädchen, die sogar auf dem Handy daddeln, wenn sie bei anderen Mädchen zu Besuch sind. Der Unterschied: Wir haben unser Tochter nie Limits gesetzt, wie lange sie im Internet sein darf oder am Handy daddeln, d.h., wie haben nie Verbote ausgesprochen. Und dadurch hat das Handy nie den Reiz des Verbotenen gehabt.
  14. Selber optimistisch, empathisch und voller Selbstvertrauen sein – das überträgt sich auf die Kinder. Und wenn man es nicht ist – stetig daran arbeiten.

 

Bestimmt gibt es noch mehr Punkte. Welche fallen Ihnen ein?  Wir haben jedenfalls ein Kind, das uns noch alles erzählt, sich nicht ritzt, Alkohol trinkt,  raucht oder an Selbsttötung denkt, alles Punkte, die sie von vielen ihrer Altersstufe unterscheidet. Zum Ausgleich ist sie ein kritischer Geist, der sich kein X für ein U vormachen lässt und alles hinterfragt.

Mittwoch, 12.9.2018: SteppenBarock

Almagul Menlibaeva, aus der Serie “SteppenBarock”, 2003, Fotografie

Opulente Inszenierungen in einer äußerst kargen Landschaft: Das ist der Weg der 1969 geborenen, kasachischen “Punk-Schamanin” Almagul Menlibaeva, um die Stellung der Frau in der postsowjetischen Aera zu reflektieren.

“Ihre Performances rühren und begeistern bis zu Tränen, sie lassen ein Gefühl zurück, als sei man einem Wunder begegnet”, schreibt Julia Sorokina im Sammelband “Vom Roten Stern zur blauen Kuppel” über die Künstlerin. Menlibaeva zeigt Frauen perfekt wie Ikonen – gleich ob sie nackt oder voll verschleiert sind. Unwirkliche orientalische Erscheinungen werden sie dadurch, wie Fata Morganas. Und Transformation, Verkleidung und Mystik sind auch 2018 noch ihre Themen.

Der Magie ihrer Fotografien wohnt für mich eine große Schönheit inne, die sich gerade aus dem Gegensatz von fast monochromer Steppe und der Innerlichkeit der Dargestellten zu den bunten Tüchern speist.

Viele Preise hat Menlibaeva gewonnen, den bisher letzten 2017 vom französischen Kultusministerium, den Chevalier Ordre des Arts et des Lettres (http://www.almagulmenlibayeva.com/).

Islamische Welten: Vom roten Stern zur blauen Kuppel. Kunst und Architektur aus Zentralasien. (c) 2004, ifa-Institut für Auslandsbeziehungen Berlin/Stuttgart

 

Dienstag, 11.9.2018: Das Glück der kleinen Augenblicke

“Wer das Glück nicht sucht, wird es finden”, wirbt der Piper-Verlag auf der vierten Umschlagseite für dieses vergnügliche Buch. Und Glück, das kann der geheimnisvolle Protagonist auch brauchen, seitdem er eine auf seine Hand gefallene Augenwimper einfach fortgewischt hat, anstatt sie fortzublasen und sich dabei etwas zu wünschen. Das glaubt zumindest ein regelmäßig im gleichen Bus wie er sitzendes Mädchen, das ihm den Namen Mr. Swift gegeben hat und findet, er müsse ein besonderes Talent haben, die Schönheit der Dinge und des Augenblicks zu sehen. Tatsächlich geht Herrn Swift von nun an alles schief: Die Verlobte verlässt ihn ohne ein Wort des Abschieds, er gerät in einen Hagelschauer und erkältet sich, wird von einem Pfarrer für den Sohn eines just Verstorbenen gehalten und verliert sein fast fertiges Manuskript.

Das wird wiederum von einer Lektorin gefunden, die sich dafür begeistert. Nur: Wie heißt der Autor, und ist das Manuskript überhaupt autobiographisch? Bei allen Missgeschicken gelingt es Mr. Swift, jeder Situation etwas Positives abzugewinnen, nach dem Motto:

Vielleicht ist es ja besser so, dass die Verlobte ihn verlassen und die gemeinsame Wohnung leergeräumt hat – denn vielleicht hätte er sie ja nie glücklich machen können! Und sein Daunenkissen, das sie gnädigerweise dagelassen hat (im Gegensatz zum Plumeau): Bettet es nicht wunderbar seinen Kopf? Das fällt ihm jetzt zum ersten Mal richtig auf.

Oder:

Ist das Schreiben nicht ein wunderbares Hobby, um ihn aus der Sinnlosigkeit seines Daseins als Bankangestellter zu retten? Durch die Literatur bekommt er seinen Kopf frei und verliert sich in eine Leichtigkeit, die im Büroalltag oft chancenlos ist…

Und zum Thema verlorene, handgeschriebene Manuskripte:

“War es nicht das Großartigste, was einer Geschichte widerfahren konnte? Sich zu verselbständigen und in den Köpfen der Menschen ihr Eigenleben zu entfalten? Sich selbst vom Dichter zu befreien?”

Selbst der Tatsache, dass die Verlobte alle Vorderseiten seiner Schallplatten zerkratzt, aber die B-Seiten vergessen hat und er voller Freude eine dieser B-Seiten hört, dann aber im Viertel der Strom ausfällt, gewinnt er noch etwas Gutes ab:

“Offensichtlich hatte der liebe Gott beschlossen, dass die Straße an jenem Abend genügend Strom verbraucht hatte. Und überhaupt wohl besser schlafen gehen sollte. Also packte Paul die Schallplatte ganz vorsichtig wieder weg, klappte den Deckel des Plattenspielers zu. Er würde dem Wink Folge leisten und sich zur Nachtruhe begeben. Morgen war auch noch ein Tag. Und auf den freute er sich. Nicht zuletzt, weil er neugierig geworden war, welche ungehobenen Schätze seine Plattensammlung, die ihm mit einem Mal ganz neu und geheimnisvoll erschien, für ihn bereithielt.”

Kurz und gut, Mr. Swift ist Optimismus in Menschengestalt. Und er behält dieses Erkennen des “Glücks der kleinen Augenblicke” sogar bei, als er erst krank wird, dann seine Wohnung und Arbeit verliert und man ihn schließlich sogar wegen angeblichen Drogenhandels verhaftet, denn die Beamten, die ihn abführen, sind “durchaus sympathisch”, wie er bemerkt.

Nun, die Geschichte ist mehr als vielschichtig erzählt, aber vielleicht geht sie doch gut aus: Mit Hilfe der Lektorin wird das unvollendete Buch veröffentlicht, und bei der ersten Präsentation des Werks verschüttet ein Zuhörer Rotwein, kommt nach der Lesung nach vorne, und er und die Lektorin werden ein Liebespaar. Und auf dem Tisch bleibt für den Verlag nur noch ein chinesischer Glückskeks zurück, mit dieser Prophezeiung:

“Wer das Glück nicht sucht, wird es finden.”

Ganz bestimmt!

Thomas Montasser: Das Glück der kleinen Augenblicke, (c) Piper Verlag, München 2018

Montag, 10.9.2018: Sofia Kowalewskaja – Zu viel Glück

Sofja Kowalewskaja (1850-1891)

Als ich mir aus dem Bücherschrank meiner Schwester Alice Munros “Zu viel Glück” herauszog, wusste ich nicht, dass die gleichnamige zehnte Erzählung des Bandes nicht komplett fiktiv ist, sondern die letzten Tage im Leben der russischen Mathematikerin Sofja Kowalewskaja schildert, der ersten Mathematik-Professorin der Welt (die Stockholmer waren so fortschrittlich), gestorben mit nur vierzig Jahren. Ein Krater auf dem Mond ist nach ihr benannt.

Ihre letzten Worte sollen gewesen sein: “Zu viel Glück!” Wie hat sie das gemeint?

“Sie starb gegen vier Uhr. Die Autopsie sollte ergeben, dass ihre Lunge von einer Entzündung völlig zerstört war und dass ihr Herz krankhafte Veränderungen aufwies, die mehrere Jahre zurückreichten. Ihr Gehirn war, wie alle erwarteten, groß.”

Hat sie zu viel Glück gehabt, weil sie das Glück der Zahlenwelt schon als Kind für sich entdeckt hat? War dieses Glück stärker als alle Schicksalsschläge und ihr früher Tod? Kann ein Mensch überhaupt zu viel Glück haben?

Jedenfalls war sie willensstark und genial. Seit 1992 verleiht deshalb die Russische Akademie der Wissenschaften für herausragende Leistungen auf dem Gebiet der Mathematik den nach ihr benannten Kowalewskaja-Preis.

Alice Munro: Zu viel Glück. Zehn Erzählungen. (c) der dt. Übersetzung S. Fischer 2011, Original: Too much Happiness, (c) A. Munro 2009

Sonntag, 9.9.2018: Berlin – Zu Besuch im Botanischen Garten

Glücksbächlein in den Gewächshäusern des Botanischen Gartens

Nach dem Ende des Heilpraktiker-Seminars in Berlin-Wittenau fahre ich schnell zu meiner Schwester, um Isomatte und Decke loszuwerden und eine Stulle – berlinerisch für eine (belegte) Scheibe Brot – zu essen. Danach geht es mit der S-Bohn zum Botanischen Garten.

Eigentlich dachte ich, dass ich ihn nicht kenne, aber weit gefehlt: Ich war schon einmal hier, abends im Winter 2016/17, zum faszinierenden Christmas-Garden-Spektakel, kurz vor dem Tod meines Vaters. Im Dunkeln und Winter, bei Regen und magisch beleuchtet – da wirkt solch ein Garten gar nicht wie ein botanischer, es könnte auch jeder x-beliebige andere Park mit Mauer drumrum sein.

Nun aber scheint die Sonne, und es ist für September sehr warm, so warm, dass ich mich in einer stillen Ecke meiner Leggins entledige und sofort Durst bekomme. Zum Glück gibt es im SB-Café vor den Gewächshäusern Fritz-Bio-Apfelsaftschorle ohne Ascorbinsäure, sodass ich gestärkt in die Glashaus-Tropen eintauchen kann. Die berühmte Victoria-Seerose blüht gerade nicht, dafür sehe ich dort etwas, was auf meiner Liste der Glücksbringer bisher fehlt, weil es mir so fremd ist: Ein Bächlein plus Teich, in den die Leute Münzen geworfen haben. Wie nennt sich das: Glücksteich?

Wenn er ein Brunnen wäre, würde er Wunschbrunnen heißen und ließe für jede hineingeworfene Münze einen Wunsch in Erfüllung gehen. Hintergrund ist der (unbewusste) Glaube, dass im Wasser göttliche Wesen leben. Bei uns in der Stuttgarter Wilhelma trieben es die Leute eine Zeitlang damit besonders arg und warfen die Münzen auf Seelöwen und Krokodile – welche sie fraßen und daraufhin starben. Zugegeben, Nilkrokodile wurden im Alten Ägypten als göttlich verehrt. Der “Große Weiße” wurde deshalb jedoch nur vierzig Jahre alt, statt der hundert Jahre, die ein Leistenkrokodil aus Südostasien erreichen kann. 140 durch Verdauungsprozesse teils rasiermesserscharfe Münzen wurden in seinem Magen gefunden. Ob die Leute inzwischen weiser geworden sind?

Im Berliner Glücksteich schwimmen jedenfalls keine Tiere, dafür an anderer Stelle Kois, starke und ausdauernde Fische, die nach der Legende in glücksbringen Drachen verwandelt werden, wenn sie den Fluss Huang-Ho über die Wasserfälle und das Drachentor hinweg bis zur Quelle hinauf geschwommen sind. Dies wird den Berliner Examplaren wohl leider kaum gelingen. Einer ist besonders schön, fast ganz weiß und mit schleierähnlichen Flossen.

Insgesamt aber gefällt es mir draußen besser, es gibt einen großen, schönen Heilpflanzenbereich, ein Arboretum mit mit einer süßen Maus mit schwarzem Strich auf dem Rücken und schließlich einen Rosengarten, in den ich mich setze und ein bisschen schreibe, während auf der Wiese hinter mir ein junger Mann Blockflöte spielt.

Abends entscheide ich mich gegen das Programmkino um die Ecke, esse zu Hause die Reste vom Freitag, packe und schaue fern. In Phoenix begegnen mir plötzlich Spitzbergen und die Noorderlicht, ein über hundert Jahre altes Segelschiff, auf dem ich vor rund zwanzig Jahren einen Sommerurlaub verbracht habe. Nun ist es Winter, und Mejke aus Holland, die immer noch dort arbeitet, hat das Schiff im Eis festfrieren lassen und bietet den Einheimischen Kaffee und Kuchen an… Wie eigentümlich, das alles nach so vielen Jahren wiederzusehen…

 

Samstag, 8.9.2018: Entspannungsübungen in Berlin

Der Berliner Bär ist zwar eines meiner Krafttiere, sieht hier aber ausgesprochen unentspannt aus.

Heute und morgen besuche ich eines meiner zehn Heilpraktikerseminare – in Berlin-Wittenau. Diesmal ist das Thema Entspannung dran, und da fast alle von uns sechsen Autogenes Training schon kenne (ich praktiziere es seit meiner Kindheit), lernen wir stattdessen Atemübungen, Progressive Muskelentspannung nach Jacobson, Shiatsu und Fußreflexzonentherapie nach Hanne Marquardt – und morgen, danz zum Schluss, werde ich kurz die Rolle der Lehrerin übernehmen und eine schamanische Krafttierreise mit allen unternehmen (einschließlich der eigentlichen Lehrerin).

Entspannung und damit Abbau von zum Teil ja schon chronischem Stress (einschließlich Angst und Trauer) ist eine besonders effektive Form, um einen geraden, breiten Weg Richtung Glück zu beschreiten, besonders dann, wenn wie hier Teilnehmerinnen und Lehrerin nett und die Räumlichkeiten ansprechend sind. Allein dass die angebotenen Tees und der Kaffee nicht Bio sind, stört mich.

Abends treffe ich mich mit meiner Stiefmutter und zweien meiner drei Stiefbrüder, und wir besuchen ein veganes Restaurant in Moabit, das Valladares (https://www.valladares-feinkost.de/). Es schmeckt gut dort, und einiges ist sogar Bio, zum Beispiel mein alkoholfreies Lammsbräu-Pils. Der Espresso schmeckt hochspannend ungewöhnlich, wir tippen auf Zimt oder eventuell eine Gewirzmischung, aber stattdessen: Er wird beim Rösten karamellisiert – sie beziehen ihn aus einer kleinen Berliner Rösterei.

Die Unterhaltung mit meinen beiden Stiefbrüdern ist sehr angeregt, doch leider geht es meiner Stiefmutter nicht gut, sie hat noch mehr abgenommen, isst kaum etwas und beteiligt sich nur selten am Gespräch. Wir nehmen immer wieder ihre Hände und streicheln sie. Am Montag will sie zur Probe in ein Pflegeheim in der Innenstadt ziehen.

Ich kaufe im Valladares noch eine Tüte Bio-Espresso Berliner Mischung für daheim. Draußen ist es schon dunkel, und ich nehme dankbar das Angebot des ältesten Bruders an und lasse mich bis fast vor die Haustür meiner Schwester Gaby fahren, bei der ich fürs verlängerte Wochenende residiere.

Freitag, 7.9.2018: Berlin – Shopping und Glücksspiel in Kreuzberg


Löblich Deli & Café, Hasenheide 49, Berlin

“Die Schönheit der Dinge liegt in der Seele dessen, der sie betrachtet.” (David Hume)

…sagt ein Spruch im Zimmer meiner Schwester Gaby. Wegen eines Heilpraktiker-Wochenendseminars bin ich zu ihr nach Berlin gefahren. Sie wird nur bis Samstag früh hier sein, um dann ihrerseits zu einem Anthroposophie-Seminar gen Langeoog aufzubrechen, während ich ihre Wohnung einhüte.

Prompt zu Beginn ihres Urlaubs hat sie sich wieder massiv erkältet. Deshalb beschließen wir, heute kein Sightseeing zu machen, sondern lediglich im Viertel einkaufen zu gehen und den Tag erholsam zu gestalten. Sie will noch einige Kleinigkeiten erledigen, und außerdem suchen wir nach einer Duftlampe für die ganzen ätherischen Öle, die ich ihr in den letzten Jahren geschenkt habe. Nun, wir finden kein Exemplar, das ihr gefällt und gleichzeitig billig ist, dafür aber in einem Indienladen drei Kopftücher für mich und im chapati wunderschöne grüne Pulswärmer mit hellgrüner Spitze aus Bio-Baumwolle (www.chapati.de). Das Logo ist eine aufgehende orange Sonne, und darunter sitzen scherenschnittartig zwei Katzen in einem Vogelnest. “Lächeln als Zeichen des Wiedererkennens” wirbt der Laden für sich: “Das Leben ist ein Ornament aus Menschen aller Farben, aller Sprachen, Bilder und Gesänge. Chapati webt einen Stoff, in dem Du Frieden träumst, ihn anlegst wie ein Gewand, ihn weiterreichst mit dem Lächeln des Wiedererkennens am Anderen, am Fremden, der Freund wird.” Nun mag zwar dahingestellt sein, ob ein Stoff dazu anregt, von Frieden zu träumen, aber maximal inklusiv ist der Werbetext auf jeden Fall.

Ein Lächeln oder etwas Kleingeld oder etwas zu essen, darum hatte in der U-Bahn auch ein junger Obdachloser gebeten. Erst wollte ich ihm nur ein Lächeln schenken, aber dann kam doch ein Euro dazu, und er schenkte mir ein Lächeln zurück, und ich bedankte mich…

Abschließend gehen wir noch ins Café Löblich (siehe Foto, www.loeblich-berlin.de), wo man trotz des Verkehrslärms schön draußen sitzen kann und es viele Sorten veganen Kuchens gibt. Ich entscheide mich für einen Schokobrownie mit Marmelade und Zucchini (sehr gut), einen doppelten Espresso (nicht heiß genug) mit Wasser und nehme mir für den Weg noch das absolute kulinarische Highlight des Tages mit: eigentlich ein handgemachtes Wassereis am Stiel, Marke Paletas, aber was für eins! Salatgurke-Zitrone, und es sind tatsächlich Gurkenscheinben drin, und es schmeckt wie Berliner Gurkensalat, nur einen Tick süßer. Fantastisch! (https://www.paletas-berlin.com/)

Insgesamt schenkt mir das Löblich eine noch bessere Erfahrung als das vegetarisch-vegane Restaurant Seerose am Südstern, halb SB, wo das vegane Essen zwar interessant gewürzt, aber leider in der Mikrowelle aufgewärmt und nur lauwarm ist.

Den Nachmittag und Abend verbringen Gaby und ich mit dem Glücksspiel Kniffel,  von dem wir schon vor Jahrzehnten eine Familienversion entwickelt haben, die etwas mehr strategisches Denken und Planen erfordert als die im Geschäft erhältliche. Glücksspiele machen bekanntlich nur glücklich, wenn es wie bei uns nicht um Geld geht, und so gelingt mir diesmal ein glücklich machender Sechs-Spalten-Ausnahmekniffel-des-Jahrzehnts mit nicht einem einzigen Strich (und auch Gaby ist nicht wesentlich schlechter)! Dazu hören wir eine CD des Widerständlers Mikis Theodorakis.

Essen koche ich, denn Gaby steht nicht gern am Herd: Nudeln mit einer selbst kreierten Gemüse-Tofu-Tomatensauce. Das Problem mit “Arm aber Bio” für Gaby ist, dass es mit Feriggerichten nicht funktioniert – die sind einfach zu teuer. Mein Problem ist hingegen die Neugier auf noch nicht ausprobierte vegane (Bio-)Restaurants, was im Hartz-IV-Satz ebenfalls nicht vorgesehen ist (und die Arbeitslosen vom sozialen Leben ausschließt und in die Arme der AfD treibt).

Vor dem Schlafengehen starte ich im Bett noch ein Buch von Gaby, Alice Munros Zu viel Glück (Too much happiness), aber davon ein andermal.

 

Donnerstag, 6.9.2018: Reiseglück

Auch wenn das nun nicht zum täglichen Beüben meiner Stärken wie dem Schönheitssinn gehört: Reisen macht mich glücklich, je weiter, je besser und: je fremdländischer, je besser. Es gibt nur eine Ausnahme: Ich reise nicht gern in Kriegs- und Krisengebiete. Ich habe das sowohl in Türkisch-Kurdistan (damals unter Kriegsrecht) als auch in Israel-Westjordanland-Gazastreifen erlebt und weiß: Ich will nicht Angst um mein Leben oder vor Verhaftung aus politischen Gründen haben.

Ich vermute, dass die Lust am Reisen genetisch bedingt ist: Mein Urgroßvater fuhr zur See und arbeitete später bei der Bahn, nachdem eine Trosse ihm die Hand zertrümmert hatte. Man sagt, er habe an jedem Endbahnhof eine Geliebte gehabt. Mein Großvater wiederum arbeitete vor dem Dritten Reich in Mailand und Barcelona und musste schließlich vor den Nazis über Polen in die Schweiz fliehen, wo er bis 1948 lebte.

Mein Vater schließlich hat schon in den 60er und 70er Jahren mit uns Kindern große Reisen unternommen, als die meisten Leute noch jahraus jahrein nur an die Nordsee oder in die Berge nach Österreich fuhren. Als ich sechs war, feierten wir mit vielen anderen das Mitssommerfest in Südschweden. Später lernten wir auch Nordschweden kennen und außerdem Dänemark, Finnland, Russland (Leningrad!), Frankreich, die Schweiz natürlich, Österreich, Jugoslawien, Griechenland und Italien. Und selbstverständlich hatte mein Vater alle Segelscheine, auch wenn er nie mit mir gesegelt ist.

Die massiven Glücksgefühle beim Reisen habe ich jedoch erst kennengelernt, als ich es nach dem Studium zum ersten Mal wagte, allein zu verreisen: Gebucht hatte ich lediglich den Flug und die ersten drei Nächte in der Jugendherberge von Reykjavik, und reisen wollte ich mit dem Linienbus einmal rund um Island. Schon im Flieger hatte ich Glückstränen in den Augen, später kamen sie dann auch einmal im Bus, als die Fensterscheibe das Licht in einen Regenbogen verwandelte – und beim unerwarteten Anblich des Polarlichts (es war erst September!).

“Über den Wolken muss die Freiheit wohl grenzenlos sein”, singt Reinhard Mey, und ich kann das bestätigen, selbst bei Geschäftsreisen weine ich manchmal vor Glück, wenn wir die Wolkendecke durchstoßen haben. Mittlerweile zahle ich natürlich den CO²-Ausgleich via atmosfair (https://www.atmosfair.de/de/), damit mein Fliegen nicht andere unglücklich macht.

Am allerliebsten aber reise ich mit und schlafe ich auf Schiffen, selbst wenn sie gerade so schräg liegen, dass man ein zweites Brett einrasten lassen muss, um nicht aus der Koje zu kullern (so geschehen auf der Noorderlicht vor Spitzbergen, https://oceanwide-expeditions.com/de/unsere-schiffe/sv-noorderlicht). Das letzte mal übergeben musste ich micht mit sechs Jahren auf der Fähre nach Südschweden. Mein Privatrezept gegen flaues Gefühl im Magen: ein trockenes Brötchen und ein Glas Bier. Wissenschaftlich anerkannt ist hingegen Ingwer, gleich ob als Tee oder Bonbon. Natürlich habe ich inzwischen den Segelschein für Binnengewässer und das Bodensee-Schifferpatent. Und Tochter Lenja ist infiziert: den Optimistenschein hat sie schon, nächstes Jahr soll der erste Segelschein für Erwachsene folgen.

Wenigsten eine kleine Schifffahrt muss deshalb in jedem Urlaub dabei sein – und sei es auch nur eine popelige Kanalüberquerung mit einer winzigen Fähre. Und so ist es auch kein Wunder, dass ich am Tag, bevor ich im July ins Krankenhaus sollte, noch schnell mit Lenja eine Fahrt mit dem Neckarkapitän von Bad Cannstatt durch die Mühlhausener Schleuse und zurück gemacht habe – Dampferfahren als Schiffsglück für Arme eben. Wenn mein Kräuterglück dem nicht entgegenstünde, würde ich gern auf einem Hausboot leben…

Heute bin ich nicht mit einem Schiff, sondern nur mit der Deutschen Bahn unterwegs, begleitet von Bio-Lakritz, das mein Mann Klaus mir gestern geschenkt hat. Ich liebe Lakritz.  Anlass meiner Reise ist mein drittes Heilpraktiker-Seminar, für das ich in Sindelfingen keinen passenden Termin gefunden habe. Was lag also näher, als zum Seminar nach BERLIN zu fahren und dies gleich mit Besuchen bei meiner Stiefmutter und meiner Schwester zu verbinden, bei der ich wohnen werde?

Zugfahren ist auf jeden Fall schöner als Autobahnfahren (von unseren beiden letzten Greiz-Aufenthalten sind meine Familie und ich da noch leidgeprüft). Den ersten Teil der Zugstrecke kenne ich sehr gut: Mannheim – Frankfurt – Fulda – Eisenach – Erfurt (von dort aus würde ein Regionalzug direkt nach Greiz fahren). Dann geht es abenteuerlich weiter durch Sachsen nach Halle, Leipzig und schließlich Bitterfeld in Sachsen-Anhalt, bevor wir von Süden aus nach Berlin einfahren. Ich muss an die schrecklichen Demos der Nazis in Chemnitz und Köthen denken. Was ein Glück, dass wir unser Haus im thüringischen Greiz gekauft haben!

Im Gegensatz zu den Nazis habe ich keine Angst vor Fremden. Am liebsten möchte ich alle Länder dieser Welt kennenlernen. Dreieinhalb Staaten pro Jahr müssten es dafür dann allerdings schon sein, und 2018 war ich leider – auch wegen meiner Radiusfraktut und dem CRPS – noch nirgends. Bisher kann ich erst mit 29 besuchten Staaten aufwarten (DDR nicht mitgerechnet) – 194 plus 12 umstrittene gibt es jedoch. Nicht üppig also… Es ist nicht die Lust am Abhaken und damit Besitzen. Ich entdecke gern. Ich bin seeeehr neugierig (und damit sind wir dann wieder bei meinen Kernkompetenzen). Wenn ich etwas Neues sehe – höre – rieche – schmecke, bin ich glücklich. Monotonie (die Plattenbauten im ehemaligen Ostblock…) macht mich unglücklich.

Ursprünglich sollte dies hier ja nur ein veganer Bio-Reiseblog werden (alle drei Punkte machen mich glücklich), nun ist er mit dem Motto “Tagesreisen zu Glück und Schönheitssinn” doch umfassender als geplant – und ich brauche nicht über einzelne Bio-Teebeutel in irgendeinem blutigen Steakhaus berichten.

Und in diesem Moment:

Von Ferne grüßt die Wartburg Eisenach,
Eisenach, das ich noch nie gesehen, nur durchfahren hab,
Eisenach, das Klaus scheu gemieden, aus dem seine Mutter stammt.
Eisenach in Thüringen wie Greiz.
Back to the roots für Klaus, wenn wir nach Thüringen ziehn.
Thüringen, das ich hegen, pflegen und lieben will.