Samstag, 22.9.2018: Der Tag vor dem Glück

Der Tag vor dem Glück, das ist für den in einem Felsenkeller versteckten neapolitanischen Mann der Tag vor dem jüdischen Neujahrsfest Rosch ha-Schana. Und so bittet er den Hausmeister, der ihn während der Zeit des Faschismus und der Nazis mit Nahrung versorgt, am folgenden Nachmittag einen Stein in den Golf von Neapel zu werfen – als Bitte um Vergebung der Sünden.

Der Tag vor dem Glück bezeichnet gleichzeitig die Zeit vor der Selbstbefreiung der Stadt: Während der berühmten “Vier Tage von Neapel” (27.-30.9.1943) erhob sich die Bevölkerung, errichtete Barrikaden und vertrieb erfolgreich die deutschen Besatzer, bevor am 1. Oktober 1943 die Amerikaner einmarschierten.

Der Hausmeister ist ein großer Geschichtenerzähler, und so erzählt er einem Waisenjungen, um den er sich kümmert, Jahre später vom Tag vor dem Glück, den Bewohnern der Stadt und seiner Liebe zu Neapel, dem Vesuv und dem Meer.

Der Tag vor dem Glück, das wird für den mittlerweile 18jährigen Waisen der Tag, bevor er das geheimnisvolle Mädchen Anna aus dem 3. Stock wiedertrifft. Schon seit seiner Kindheit ist er in sie verliebt. Nun gehen sie in das frühere Versteck des Juden und feiern ein rauschendes sexuelles Blutfest (das nicht ganz nachvollziehbar und deshalb 2016 mit dem “Bad Sex in Fiction Award” ausgezeichnet worden ist).

Dann ist die geheimnisvolle Anna, die eigentlich mit einem inhaftierten Mafiosi verlobt ist, wieder verschwunden. Der Tag nach dem Glück ist der Tag des Wundenleckens, denn das Mädchen hat den Jungen im sexuellen Rausch fast umgebracht. Er weiß, dass sie nichts für ihn ist, aber er kann sich ihrem Bann nicht entziehen.

Und so weiß er auch, dass er sich auf Camorra-Art mit dem Verlobten Annas auseinandersetzen wird, d.h. mit dem Messer. Dabei ersticht er den Mafiosi und wird vom Hausmeister mit falschen Papieren auf ein Auswandererschiff nach Argentinien gebracht.

Wenn man einmal von der sehr blutrünstigen Sexszene und der Messerstecherei absieht, ist dies ein sehr schönes Buch. Ein Buch der Heimatliebe zu Neapel, das für den Autor schier gar nicht zu Italien gehören mag.

Erri de Luca ist wie seine Protagonisten ein neapolitanischer Autodidakt, der sich sogar selbst das Althebräische beigebracht hat. Er ist mittlerweile mit vielen Literaturpreisen ausgezeichnet und war eines der berühmtesten Mitglieder von Lotta Continua –  einer außerparlamentarischen, linken Gruppierung aus den Zeiten der Studentenbewegung. Nach Auflösung der Gruppe Ende der 70er Jahre lernte ich im norditalienischen Brescia noch mehrere frühere Angehörige kennen, Gianni, Walter, und wie sie alle hießen. Sie stammten wie de Luca aus der Gegend von Neapel (Minori und Maggiori) und betreiben in Brescia zum Beispiel die Pizzeria Positano. Es gibt keine Zufälle. Damals war es der einzige mir bekannte Ort, wo Stehklo und Dusche eins waren (man legte einfach eine perforierte Gummimatte über das Klo). Gianni kürzt sich heute nicht mehr ab, sondern nennt sich Giovanni, die Pizzeria gibt es immer noch, und sie hat sehr gute Rezensionen: https://www.tripadvisor.it/Restaurant_Review-g194702-d8728042-Reviews-Pizzeria_Positano-Brescia_Province_of_Brescia_Lombardy.html

Il giorno prima della felicità, (c) 2009 Erri de Luca
(c) für die deutsche Ausgabe Ullstein Buchverlage GmbH Berlin, ungekürzte Ausgabe im List Taschenbuch 2011/12

 

 

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