Sonntag, 29.7.2018: Der närrische Gauchheil auf der Dachterrasse

Dank der schnarchenden Babuschka habe ich zwei fast schlaflose Nächte im Stuttgarter Karl-Olga-Hospital hinter mir und fühle mich nicht weniger gauchig als die Narrenpflanze zwei Stockwerke über mir. Die Gewitterblume, das Heil aller Welt, die Nebelpflanze, das magische Neunerblümle, das Vernunftkraut, das Wetterkraut. Scarlet Pimpernell. Es gibt nur ganz wenige Blumen, die an einer Pflanze rote und blaue Blüten tragen – außer meinem kleinen Gauchen fällt mir nur das Lungenkraut ein – hier können die Insekten anhand der Blütenfarbe (basisch-blau / sauer-rot) sehen, ob noch Nektar vorhanden ist. Bei meinem Narren wohl auch?

Er ist eine ziemlich giftige Pflanze und würde, wenn ich ihn äße, meine Krankheitssymptome massiv verschlimmern: Ausschlag, Übelkeit, Kopfschmerzen, Durchfall, Entzündungen des Verdauungskanals und leichte Narkotisierung – all dies habe ich auch ohne ihn.

Der Acker-Gauchheil ist eine Wetterpflanze, denn die Blüten öffnen sich nur bei Sonnenschein von 7 oder 9 Uhr bis 14/15 Uhr. Wenn Unwetter aufkommt, schließen sie sich. Es ist Mittag, und die Sonne brennt vom Himmel. Er blüht. Das Volk fasst seine ungewöhnlichen Eigenschaften in diesem Spruch zusammen:

Blümlein Gauchheil rot und blau

bei drohenden Wolken beschau!

Will es regnen, so gehen sie zu.

Hast du Gefahr, so eile du!

Früher galt er als Heilpflanze gegen Geisteskrankheit und Dummheit (Gauch = Gaukler, Narr, Kuckuck oder Tor). Auch Gespenster sollte er – im Stall aufgehängt – vertreiben können. Die alten Griechen setzten die Pflanze gegen Melancholie ein. Selbst Geschwüre wurden früher mit dem Gauchheil behandelt, ebenso wie Wunden, Zahnschmerzen und Nasenprobleme.

Wenn sie gegen Tollwut helfen soll, muss die Pflanze am Johannistag (24. Juni) gepflückt werden. Das Hexendatum ist für dieses Jahr schon passé, aber ich bin ja auch nicht gebissen worden.

Für Heiratslustige in Südtirol ist die Johannisnacht vor dem 24.6. bedeutungsvoll. Das Mädchen braucht während des Abendläutens nur mit der rechten Hand schnell einen Kranz zu winden und nachts unter das Kopfkissen zu legen, dann erscheint ihr im Traum das Bild des Geliebten. Im Sarntal gehört dazu das „Goschal“ (der Gauchheil oder auch die Schafgarbe). Die Pustatalerinnen werfen den Kranz auf die Bäume.

Im Roman „The Scarlet Pimpernel“ von Baronin Orczy schließlich retten englische Aristokraten während der Französischen Revolution mögliche Opfer. Ihr Erkennungszeichen ist der Acker-Gauchheil, das Narrenkraut der Rettung.

Mir verhilft das Vernunftkraut heute – an meinem letzten vollen Tag im Krankenhaus, zu einer Entscheidung. Babuschka ist fort und in meinem Zimmer himmlische Ruhe eingekehrt, und bei einem Dösen morgens oder tagsüber war ich schon häufiger besonders kreativ: Ich werde mich von nun an ernsthaft dem Glück und der Schönheit und dem Entdecken widmen, schreibend.

 

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