Manchmal stellt das Glück mir ein Bein und wirft mich auf mich selbst zurück: Ich muss für zwei Wochen ins Krankenhaus wegen eines Komplexen Regionalen Schmerzsyndroms. Ja, das ist ein bisschen wie ein Klosteraufenthalt – Zeit, nach mir selbst zu schauen. Ich genieße die Zeit. Was will ich mit den nächsten 52 Jahren meines Lebens anfangen, was macht mich glücklich? Im Beruf, der Freizeit, mit der Familie?
Der Psychologe Martin Seligman verrät es mir: Alles, was meine lachende Neugier und meinen Lerneifer befriedigt, die Liebe zu meinem Mann (und meine Fähigkeit, mich von ihm lieben lassen), Klugheit und Besonnenheit, mein absoluter Schönheitssinn, mein Optimismus und meine Spiritualität.
Wie aber kann ich das mit meinem Beruf verbinden? Nun, indem ich über alles Schöne schreibe, das ich entdecke. Zum Beispiel heute Nacht auf der Dachterrasse des Karl-Olga-Hospitals mitten in Stuttgart. Es ist die längste Mondfinsternis dieses Jahrhunderts, anderthalb Stunden dauert sie, bei sternenklarem Himmel und einem strahlenden Mars rechts unterhalb unseres Trabanten.
An Schlaf wäre eh nicht zu denken, denn in das zweite Bett meines Doppelzimmers haben sie in dieser Nacht eine russische Babuschka mit deutschem Familiennamen und den Körpermaßen und Schnarchgeräuschen eines Walrosses einquartiert – sie spricht fast kein Wort Deutsch und starrt die meiste Zeit mit kleinen, eisblauen Augen mal schweigend mal murmelnd vor sich hin. Also zwei Stockwerke nach oben fahren, auf dieser Terrasse war ich noch nie!
Zunächst aber muss ich den Mond suchen, denn am Horizont ist es noch ein wenig dunstig, und in welche Himmelsrichtung soll ich schauen? Schließlich kommt mir die Logik zur Hilfe: Wo die Sonne untergegangen ist, weiß ich, und wenn der Mond im Erdschatten liegt, muss er in der entgegengesetzten Richtung, im Osten, zu suchen sein. Und da steht er auch, fahl und blutig. Natürlich bin ich nicht allein. Auch andere laufen hin und her, gern mit Handys am Ohr. Eine Mittvierzigerin stellt sich einen Meter neben mich und kommentiert ihrer Telefonpartnerin, welche sich auf der Toilette oder im Bad befindet, im breitesten Schwäbisch jedes Detail. Leider verlässt ihr Pendant das Stille Örtchen nicht, und so ist den Banalitäten schier kein Ende gesetzt.
Schließlich kommt mir eine Idee: Mein Vater hatte sich im vergangenen Jahr zu seiner Beerdigung alle Strophen von Matthias Claudius‘ „Der Mond ist aufgegangen“ gewünscht. Ganz alle fallen mir nicht mehr ein, aber doch viele, und ich fange an zu singen. Instinktiv geht die Dame davon. Stattdessen stellt sich ein alter Herr im gestreiften Hemd neben mich, fast nur ein Schatten. Hat er einen weißen Bart?
„Matthias Claudius, das singt doch heute leider niemand mehr!“
„Sie hören doch, dass ich es singe!“
„Ja, aber die jungen Leute kennen das Lied nicht mehr!“
„Meine Tochter schon!“
„Kennen Sie „Abendstille überall?““
Ich fange an, es zu singen, schaffe aber die hohen Töne nicht (ich bin halt nicht eingesungen in dieser Nacht) und muss mich entschuldigen. Zu meinem inneren Erröten stellt sich heraus, dass er ein pensionierter Musikprofessor ist, der im selben Stadtteil wohnt wie ich, Spezialist für Mendelssohn-Bartholdy. Seine Mutter war Pianistin und spielte die jüdischen Komponisten auch vor Wehrmachtsoffizieren und Generälen, während er bei ihren Konzerten heimlich unter dem Flügel saß. Als er 1945 acht Jahre alt war, mussten sie aus Polen fliehen. Seine Tochter hat ihn nun gebeten, seine Kindheitserinnerungen aufzuschreiben. Er sieht den Untergang des Abendlandes unaufrinnbar auf uns alle zukommen, weil niemand sich mehr ausreichend mit den Klassikern und Romantikern beschäftigen würde, wie er meint. Auch hier muss ich ihm widersprechen, denn an Waldorfschulen wird das ja durchaus noch gepflegt, und auch mein eigenes Kind interessiert sich dafür. Nein, die Mehrheit der Bevölkerung ist das nicht, aber das Bildungsbürgertum war noch nie die Mehrheit der Bevölkerung.
Wir stehen ans Geländer gelehnt und schauen dem Mond zu, und natürlich kennt er „Zwei Männer in Betrachtung des Mondes“ von Caspar David Friedrich, auch wenn nun hier ein Mann und eine Frau stehen und die Stimmung über den Dächern von Stuttgart eine ganz andere ist als die seinerzeit auf Rügen, es war doch Rügen? Und natürlich kenne ich „Peterchens Mondfahrt“ und habe es auch meiner Tochter vorgelesen.
Ein verzaubertes, surreales Gespräch, es schwebt wie der Mond über den Himmel hinweg, schwerelos und ohne Konsequenzen. Schließlich ist der Mond keine rotblasse, flache Scheibe mehr, sondern milchgelb und kugelrund, als ob wir ihn im nächsten Augenblick anfassen könnten, als ob er Teil eines Modells „Unser Sonnensystem“ wäre, mit kleinen Bällen in verschiedenen Farben. Oder eine Kugel Vanilleeis, bitte!
Wir stellen zur selben Zeit fest, dass es 23.07 Uhr ist und wir beide um 23 Uhr unsere Medikamente auf den Zimmern hätten einnehmen sollen. Er strebt nach links davon, ich nach rechts, und wahrscheinlich werde ich ihn bei Tageslicht nicht wiedererkennen.