Stuttgart-Sillenbuch: Martin-Luther-Kirche und Anna-Haag-Platz
Einen größeren Gegensatz könnte es fast nicht geben: Im Hintergrund die evangelische Kirche unseres Stadtteils, 1933 unter Hakenkreuzfahnen eingeweiht, im Vordergrund der nach der Sillenbucher SPD-Politkerin und Pazifistin benannte Anna-Haag-Platz.
Vor 1933 mussten die Sillenbucher sonntags hinunter nach Rohr-acker, um Gott zu dienen. Besonders eifrig waren sie nicht und galten deshalb als ziemlich gottlos. Doch dann kamen die Nazis und alles wurde gut. Im Buch von Christian Glass, „Sillenbuch & Riedenberg“, heißt es:
“Immerhin ist (NSDAP-)Ortsgruppenleiter Karl Dreizler seit 1927 Kirchengemeinderat. Als Landesbischof Theophil Wurm die Martin-Luther-Kirche fünf Monate nach der Machtübernahme der NSDAP einweiht, ist ganz Sillenbuch mit Hakenkreuzfahnen geschmückt.“
Wie anders Anna Haag, seit 1926 Stuttgarterin. Mitte Juni 1940 beginnt sie ein Tagebuch, das sie unweigerlich den Kopf gekostet hätte, hätten die Nazis es entdeckt. Ja, ihr Widerstand ist nur ein innerer, heute 500 Seiten eng mit Schreibmaschine betippt, damals handgeschrieben und versteckt. Aber immerhin, besser als Mitläufertum und die Behauptung, man hätte von der Ermordung der Juden erst 1945 erfahren. Auszüge aus ihrem Tagebuch sind auf dem Anna-Haag-Platz zu lesen, umrahmt von Lavendelbüschen.
Wenn auch während der Nazizeit nur im inneren Widerstand, mutig war sie doch, die Anna Haag: Kaum war der Krieg zu Ende, trat sie schon 1945 wieder der SPD bei und begann, sich erfolgreich politisch zu engagieren – zu einer Zeit, als das für Frauen noch mehr als unüblich war. Wikipedia schreibt:
„Anna Haag engagierte sich nach dem Zweiten Weltkrieg für den Wiederaufbau Stuttgarts und setzte sich für die politische Bildung von Frauen ein. So war sie unter anderem Mitglied des Städtischen Beirats der Stadt Stuttgart und Mitbegründerin der Arbeitsgemeinschaft Stuttgarter Frauen. (…)
1946 wurde Haag in die Verfassungsgebende Landesversammlung und anschließend in den ersten Landtag von Württemberg-Baden berufen. Sie war eine von nur zwei Frauen (sic!). Mitglied blieb sie bis 1950.
Anna Haag engagierte sich für die Anerkennung der Hausfrauenarbeit als vollgültige Arbeit und für die Ablehnung des Kriegsdienstes mit der Waffe. Der Satz „Niemand darf zum Kriegsdienst mit der Waffe gezwungen werden“ aus dem von ihr eingebrachten Gesetz Nr. 1007 des Landes Württemberg-Baden wurde – leicht abgeändert – später in das Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland aufgenommen („Niemand darf gegen sein Gewissen zum Kriegsdienst mit der Waffe gezwungen werden“, Art. 4 Abs. 3 GG).“
Auch Anna Haag ist ein leuchtendes Beispiel dafür, dass Optimistinnen länger leben – sie wird 94 Jahre alt und lebt bis zum Schluss getreu ihrer Maxime:
„Um eines Altersglückes willen darf der alte Mensch seine Altersweisheit, die zu neunzig Prozent aus Milde allem menschlichen Irren gegenüber besteht, auch auf sich selbst anwenden. Er braucht seine Fehlleistungen und Irrwege nicht wegzuleugnen. Aus der Freude an geistiger Ehrlichkeit, wiederum ein Vorzug des Alt-Seins, kann er zu seinem Leben, gewoben aus Freuden und Leiden und durchschossen von Irrtümern und Fehlleistungen, sagen: Trotz alledem, ja!“