Donnerstag, 23.8.2018: Die Form der Schönheit

Welche Form hat die Schönheit eigentlich? Wie kann sie zu einer Quelle der Lebenskunst werden? Und wie lässt sich Schönheit im Alltagsleben verwirklichen? Diesen Fragen geht der Kölner Autor Frank Berzbach in einem kürzlich bei Eichborn erschienen und schön gestalteten Essay (mit Lesebändchen, welch ein Luxus!) nach.

Viele Bereiche macht er aus, in denen sich Schönheit verwirklichen lässt, einer davon ist das Heilige, Sakrale, während er bemängelt, dass die Kunstproduktion der Jetztzeit sich häufig nicht mehr mit dem Schönen, sondern ab und an sogar mit dem Hässlichen beschäftigt.

In Opposition zur Schönheit stehen für ihn Lärm, Zerstörung und Rausch, Computerspiele, Krieg, Aggression und Folter. Um so mehr erstaunt sein Faible für Herrenmagazine und den Lebensstil ihrer Herausgeber sowie für Pin-ups, die ja nun genau mit Krieg (Pin-ups auf Bombern) und Aggression gegen Frauen (Vergewaltigung durch Soldaten) jedwede Menge zu tun haben. Was nutzt Schönheit, wenn sie zur Ware verkommt, und eine Marilyn Monroe (die auch als Pin-up posierte) am Ende ihres kurzen Lebens, von Drogen zerstört, Selbstmord begeht, falls sie nicht doch ermordet wurde? Die Herausgabe von Herrenmagazinen und Modezeitschriften mag es den Herausgebern ermöglichen, ein schönes Leben zu führen – für Models ist fast immer das Gegenteil der Fall. Übrigens: Die dort verwendeten „schönen“ High-Heels ruinieren jeden Frauenfuß ohne Ausnahme nachhaltig, die orthopädischen Probleme und die Schmerzen im Alter sind immens – und was haben deformierte Füße (wo Herr Berzbach doch behauptet, gegen Schönheits-OPs zu sein) und Schmerzen mit einem Leben in Schönheit zu tun? Müssen die high-heels-deformierten Frauen dann die Orte der Berzbachschen Schönheit und der Foucaultschen Heterotropien verlassen?

Warum sich Berzbach zur selben Zeit über Pin-ups in der Kirche entrüstet (genauer gesagt: über den Auftritt von Pussy Riot in einer russischen Kirche zum Ärger Putins), das entzieht sich nun vollständig meinem Verständnis, denn zumindest sind diese Frauen doch schön, sogar sehr schön und die Kleiderausschnitte tief, es gibt sogar den Ansatz eines Can-Cans, auch wenn die Worte des Punk-Gebets selbst nicht ästhetizistisch-schön, sondern eben wahr und politisch sind (https://www.youtube.com/watch?v=grEBLskpDWQ). Wahrheit und Liebe, sagt Herr Berzbach, seien untrennbar mit Schönheit verbunden. Stört es ihn etwa, dass die Frauen ihre Gesichter verhüllt haben? Aber das kommt in den Herrenmagazinen doch auch vor! Oder liegt es daran, dass man, spießbürgerlich betrachtet, einfach nicht tut, was Pussy Riot getan hat? Oder sollte es Herr Berzbach sein, der bestimmt, was politische Wahrheit und damit schön ist?

Kommen wir zu dem, was Frank Berzbach außer Pin-ups noch liebt: die Schönheit von Fahrrädern, Schallplatten und Plattenspielern, Bücher, Jazz, Füllhalter und Bleistifte, Papier und Notizbücher, Tätowierungen (übrigens in der Ethnologie ein Zeichen für gewalttätige Kulturen – Menschen müssen dafür Schmerz ertragen können und üben damit schon mal für den Krieg mit den Nachbarn – ich mag sie als Ethnologin deshalb nicht), Kirchen, Klöster, Museen und Hotels, Schuhe und das Meer, inhabergeführte Ladengeschäfte, Tee- und Kaffeehäuser. Bis auf die Tätowierungen kann ich ihm da wieder folgen.

Berzbach behauptet, dass nur wenige Frauen Jazz mögen, und wird sich freuen zu hören, dass ich eine davon bin – vielleicht dank meines verstorbenen Vaters, der mich schon früh in Konzerte zum Beispiel des United Jazz & Rock Ensembles mitnahm. It‘s the Bourbon Skiffle Company, allways happy, happy as can beeeee…. Am meisten schätze ich den Cross-over zwischen Jazz und Weltmusik.

Wir besitzen in der Familie kein Auto, sondern benutzen Fahrräder, öffentliche Verkehrsmittel und unsere Füße – und haben sogar unseren Vermieter überzeugt, es uns gleich zu tun.

Stattdessen besitze ich noch eine ganze Reihe von Schallplatten und einen halbautomatischen Plattenspieler. Aber ich höre auch CDs und SWR2 (und ganz manchmal Klassik Radio, das mir aber auf Dauer zu platt und zu sehr von Werbung verseucht ist – was dem Konzept von „Klassik zum Wohlfühlen“ massiven Abbruch tut, jedenfalls was mein Wohlgefühl anbelangt).

Als Germanistin und Verlagskauffrau liebe ich selbstverständlich Bücher – eine Zeitlang war ich sogar Mitglied bei den Bücherfrauen. Vor allem liebe ich auch schön gemachte Bücher, solche, die Buchpreise für ihre Gestaltung gewinnen. Oder die Bücher (und T-Shirts) der Buchkinder Leipzig (https://www.buchkinder.de/die-idee/). Ich habe noch kein einziges Buch online gelesen, obwohl mein eigener Kräuterkrimi online bei Amazon publiziert worden ist – mir fehlt dabei das Haptische (https://www.amazon.de/Alraunen-Galgenbuckel-Ein-Stuttgarter-Kr%C3%A4uterkrimi-ebook/dp/B01H25SY7Q/ref=sr_1_1?ie=UTF8&qid=1535022139&sr=8-1&keywords=Alraunen+am+Galgenbuckel).

Ich besitze ebenfalls viele Bleistifte und einen Füllfederhalter (und spiele gerade mit dem Gedanken an den Kauf eines zweiten als Ersatz für den kaputt gegangenen). Papier und Notizbücher gehören dazu.

Über Kirchen, inhabergeführte Ladengeschäfte und Museen habe ich schon auf diesem Blog berichtet – das Meer wird dazukommen, sobald wir wieder einmal dorthin fahren, denn am liebsten würde ich am Meer wohnen, zum Beispiel in Flensburg oder Lübeck.

Und es wird es Herrn Berzbach auch freuen, dass ich gestern im Harry‘s gesessen und Leute geguckt habe. Das Harry‘s ist eine Kaffeerösterei in der Stuttgarter Eberhardstraße. Hier wird einem der doppelte Espresso an der Theke serviert mit einem Glas stillen Wasser und einem Täfelchen Zartbitterschokolode mit Kakaosplittern, dazu habe ich noch einen Tartufo dolce Menta von Tartuflanghe genossen – und später für meinen Mann als Freitagsgeschenk noch Erdbeerpralinen erstanden, die unter der schönen Bezeichnung „Frucht & Sinne – Leidenschaft“ verkauft werden und Fairtrade sind. Kein Caféhaus im engeren Sinne, aber eben ein inhabergeführtes Kaffeehaus mit eigener Philosophie: https://harrys-kaffee.de/philosophie/

Ach ja, und die Schuhe: Heute wurde mir netterweise ein neues Paar zum Anprobieren zugeschickt, weil es im Laden gerade nicht vorrätig war. Ich bin gespannt…

Aber ist das alles, worum es bei der Schönheit des Alltags geht? Ja, Herr Berzbach erwähnt auch die Kreativität, und immerhin hat er ja ein Buch geschrieben, das ist doch schon mal was. Ja, und er erwähnt auch die Meditation und das Heilige. Trotzdem bleibt er mir zu sehr an der äußeren Form hängen und kommt zu wenig auf die innere Form der Schönheit zu sprechen. Ich vermute nämlich, dass es eine innere Form der Schönheit gibt, und dass ich irgendwann in diesem Blog nicht mehr nur über die Schönheit des Zitronenfalters sprechen werde, der gerade kurz an mein Fenster geflogen ist, bevor er weitergegaukelte. Ein Gedicht vermittelt etwas von dieser inneren Schönheit, manchmal ein Musikstück oder ein Gemälde. Und trotzdem ist es nicht einfach der Goldene Schnitt (den Berzbach in seinem Essay übrigens nicht erwähnt) oder irgend eine Technik, die etwas zu etwas Schönem machen.

Es ist ein eher ein inneres Leuchten und Strahlen. Die drei Frauen von Pussy Riot haben es übrigens, in ihren Gesichtern, dieses Leuchten (https://de.wikipedia.org/wiki/Pussy_Riot). Und vielleicht hätte die russische Christ-Erlöser-Kirche auch solch ein Leuchten, wenn sie kein Dach hätte, sondern nach oben offen wäre, zum Himmel hin, wo nach christlichem Glauben Gott sitzt.

Affektiertheit“, schreibt Herr Berzbach am Ende, „ist niemals schön und Schönheit ist immer unergründlich tief.“

Herr Berzbach wirkt durch seinen Text und seine Webseite auf mich wie ein dem Ästhetizismus verhafteter Mensch, wie ein Dandy des 21. Jahrhunderts und ein Flaneur, der trotz seiner Zen-Meditationen leider immer noch die Form der Schönheit der Lebenskunst über ihren Inhalt stellt. L’art pour l’art eben. Mein Leben ist jedoch nicht schön, weil ich in einem Kaffeehaus sitze, gut angezogen und umgeben von schönen Menschen. Sondern es speist sich zum Beispiel auch aus der Schönheit des Widerstands – auch im Alltag – und der hat eine ganz andere Form.

Aus diesem Grunde ziert nicht Herrn Berzbachs Buchcover diesen Blogbeitrag, sondern ein Foto von frischen, noch ungerösteten Kaffeebohnen.