“The land of maybe” nannten die britischen Besatzungssoldaten zwischen 1940 und 1945 die Färöer. Denn “maybe”, also: vielleicht, war die übliche Antwort der einheimischen Färinger auf die Frage, ob der Weg x morgen passierbar sein oder der Flughafen am Abend im dicken Nebel verschwinden würde. Das Wetter auf den magischen Färöern ist unberechenbar – und die Menschen hier nehmen’s gelassen.
jeder mensch ist künstler*in
Aber nicht nur ein Vielleicht zeichnet das Leben hier aus, sondern ebenfalls ein Sowohl – als auch. Der Fahrer, der uns tagsüber in einem der kostenlosen, etwas klapprigen Stadtbusse durch Torshavn kutschiert, ist vielleicht abends Rockmusiker. Die Verkäuferin in der Design-Boutique arbeitet bestimmt nebenbei als Silberschmiedin. Denn soviel Kunst, Musik, Literatur und Design, wie uns die knapp 54.000 färöischen Menschen zeigen, kann es nur geben, wenn alle in ihrer Freizeit singen, malen, schreiben, stricken – also kreativ sind.
Jedes Ding hier scheint ein zweites Gesicht zu haben: Der Felsen dort ist ein Troll. Da, wo das geisterhafte Huldrefolk wohnt, sollte man keine Straße bauen. Die Seeanemone im Meer, die wie eine Pflanze ausschaut, ist ein Tier. Eine Ente im Stadtpark-Wald sieht aus wie ein Truthahn (und entpuppt sich im Internet als Warzenente). Viele Schafe sind schwarzweiß gefleckt wie Kühe. Das Boot ist ein Wal – oder ein Papageientaucher.
Rhabarber wächst zwei Meter hoch, doch die Bäume bleiben häufig klein. Der international berühmte färöische Schriftsteller William Heinesen (1900-1991) war gleichzeitig Grafiker und Komponist. Das Dach unseres schwarz geteerten Holzhauses ist ein mit Birkenrinde nach unten abgedichteter sattgrüner Torfrasen.
Hier arbeiten die musen zusammen
Aber nicht nur das: Gern werden die musischen Hauptgattungen auch miteinander verknüpft. Und so fordert uns das Kunstmuseum Listasavn in Torshavn bei einigen Bildern auf, mit dem Handy einen QR-Code einzuscannen und in Betrachtung des Gemäldes die Musik zu hören, die genau dazu komponiert worden ist. Laut, damit die anderen im Museum auch etwas davon haben. Oder: Auf den CDs Kristian Blaks, eines der bedeutendsten zeitgenössischen Jazzkomponisten hier, werden Gedichte rezitiert.
Die Färinger leisten sich: eine eigene Universität, alljährlich ein riesiges Musikfestival namens Sommertónar (mit 2022 knapp 200 Konzerten zwischen Mai und September!), ein eigenes CD-Label (TUTL), einen eigenen Fernsehsender (Sjónvarp), ein eigenes Symphonieorchester, das sich auch vor dem Zusammenspielen mit der Metalband Týr nicht scheut – und vieles mehr.
der färöische kettentanz
Ohne diese Liebe zu Kunst und Kultur, die den ganzen Alltag durchwebt, hätten die Färinger als eigenständiges Volk mit Autonomiestatus innerhalb des dänischen Königreichs nicht überlebt. Bis Mitte des 18. Jahrhunderts zählten sie nicht mehr als viertausend Seelen – eigentlich zu wenig, um eine ganz besondere altnordische Sprache und Kultur zu bewahren. Aber die Färöer tanz(t)en ihren traditionellen, noch aus dem Mittelalter stammenden Kettentanz. Zu ihm wurden über die Jahrhunderte hinweg die vielen, bis zu hundertstrophigen Balladen gesungen. Und der- oder diejenige, die/der die meisten Gedichte auswendig kannte, genoss hohes Ansehen in der Gemeinschaft. Auch heute noch wird zum Beispiel auf Familienfesten stundenlang zusammen gesungen und getanzt. Und alle sind stolz auf ihre Eigentümlichkeiten. So überlebt eine Kultur mit nur wenigen tausend Muttersprachler*innen zwischen Felsen, Trollen, Stürmen, norwegischen Überfällen und dänischer Kolonisation bis zum heutigen Tag.
Links:
* National Gallery of the Faroe Islands Listasavn, Gundadalsvegur 9, FO-110 Tórshavn, https://art.fo/
* Kristian Blak, Reynagöta 12, FO-100 Tórshavn, https://www.kristianblak.com/
* über William Heinesen: http://visittorshavn.fo/william-heinesen/
* Fernsehsender Sjónvarp: https://kvf.fo/nskra/sv
* Der Shop des Labels TUTL befindet sich in der Niels Finsensgöta 9c, FO-Tórshavn, https://www.tutlrecords.com/