Ich bin in der Ex-Jugendherberge Langenwetzendorf kurz vor halb sechs Uhr aufgewacht und habe die frische, kühle Thüringer Luft genossen. Der kettenrauchende und Rauchmelder-auslösende Gast vom Vortag sitzt schon draußen, wartend, rauchend, und wird schließlich von einem weißen Lieferwagen abgeholt. Ich schaue zu, Stille trotz Auto, Entspannung, Mann und Tochter schlafen noch tief und fest. Vielleicht ist er Saisonarbeiter oder Monteur? Eine Taube gurrt, eine Amsel hüpft über den Rasen und die Kätzchen genießen das Leben in diesem Kätzchenparadies.
Bevor wir nach dem Frühstück gen Greiz starten, müssen wir noch eines herausfinden: Was ist eine Bio-Landschule? Langenwetzendorf hat nämlich nicht nur die Ex-Jugendherberge und ein Freibad mit Riesenrutsche, sondern eben auch eine Bio-Landschule. Leider verrät keine Tafel am historistischen Schulgebäude, was es mit dem Namen auf sich hat, und so muss ich die „Ostthüringer Zeitung“ im Internet zu Rate ziehen:
„Für ihr Engagement für die Umwelt wurden 59 Schulen in Thüringen durch Umweltministerin Anja Siegesmund (Grüne) und Bildungsminister Helmut Holter (Linke) ausgezeichnet. Auch die Bio-Landschule in Langenwetzendorf hatte sich für die Schuljahre 2015 bis 2018 beim Wettbewerb um den Titel „Thüringer Nachhaltigkeitsschule – Umweltschule in Europa“ beteiligt. Mit Erfolg. Die Regelschule wurde seit 1999 ununterbrochen als Umweltschule ausgezeichnet, nun bekam sie zudem die Ehrung in der Kategorie „Gold“. Überzeugen konnten die Langenwetzendorfer nicht nur mit einem Projekt, sondern gleich mit mehreren, und durch die außerschulischen Kooperationen mit dem Bio-Seehotel, der Gemeinde sowie mit dem Imkerverein. So verweist (Lehrer) Tom Jungk nicht nur auf das Engagement von derzeit neun Schülern in seiner Öko-Gang, sondern auch auf die Pflege der Apfelhecke, ein Feuchtbiotop, in das eine Umweltpumpe eingebaut wurde, die Neugestaltung des Insektenhotels sowie auf Pflege- und Umgestaltungsarbeiten am Hochbeet der Schule.“
Donnerwetter! Trotz grün-schwarzer Landesregierung haben wir so etwas hier bei uns in Baden-Württemberg nicht. Da scheint das Thüringer Rot-rot-grün besser zu funktionieren. Ein Puzzlesteinchen auch zum Greizer Glück?
Aber nun fahren wir erst einmal nach Greiz-Rothental. Mein Mann Klaus hat hier nämlich vor ein paar Tagen „für‘n Appl und‘n Ei“ ein altes Fachwerkhaus mit Garten und Blick auf den hiesigen Fluss, die Weiße Elster, erworben. Hier werden wir wohnen, wenn wir in Rente gehen – aber vorher heißt es noch: vieeeel renovieren! In einem der Zimmer hängen Pflanzen zum Trocknen, wie gemacht für mich alte Kräuterfrau. Im Garten wachsen Salbei, Maiglöckchen, Pflaumen, Kirschen, Himbeeren. Das Klo ist noch ein Plumpsklo im Freien. Ich lasse mich darauf ein und übersehe einmal die auf uns zukommende Arbeit – dann ist es wunderbar romantisch hier! Klaus hatte natürlich alles vor Abschluss des Kaufvertrags besichtigt, aber für Tochter Lenja und mich ist es die erste Begegnung. Nicht nur wohnen wollen wir hier (vielleicht mit Klausens Bruder und meiner Schwester zusammen), sondern es soll auch ein „Bioglückshaus Greiz“ entstehen, mit Seminarräumen und öffentlicher Bibliothek.
Von der Straße „An der goldenen Aue“ (welch schöner Name!) werfen wir noch einen letzten Blick auf unser Wolkenkuckucksheim. Weil meine Hand immer noch stark lädiert ist seit meinem Unfall Anfang Mai, wollen wir das Wochenende nicht der Arbeit, sondern dem Erkunden der Greizer Schönheit und des Greizer Glücks widmen. Was also ist das Geheimnis der Greizer? Der vergoldete Spiegel und die Sonne, die an der Wand der Pizzeria „Da Papu“ hängen? Der Name erinnert mich an den Film „La Vita è bella“ des Komikers Roberto Benigni – der kleine Junge dort nennt seinen Vater „Papu“. Nun, nicht mehr als ein winziges Puzzleteilchen.
Neben der Pizzeria befinden sich der Biomarkt und die Peanuts-Biokneipe von Greiz. Sie haben beide nur von montags bis freitags geöffnet – wie überhaupt so einiges hier. Auch ein Grund für das Greizer Glück? Wahlspruch: „Eine Fünf-Tage-Woche ist auch für Selbständige mehr als genug.”?
Oder vielleicht hilft das Motto der Greizer im Prospekt der Tourist Information weiter: „Wir leben nur, um Schönheit zu entdecken. Alles andere ist eine Art des Wartens.“ (Khalil Gibran). Vielleicht passt dazu, dass der Autor dieser Zeilen eben nicht nur Autor, sondern auch Maler und Philosoph war, und dass er in zwei völlig unterschiedlichen Ländern lebte. Ein Weltenbürger.
Wir überqueren die Weiße Elster und gehen in das Untere Schloss. Greiz, die „Perle des Vogtlandes“, war früher einmal die Hauptstadt des aller-aller-allerkleinsten Fürstentums Deutschlands. Das hat ihm auf gerade einmal 21.000 Einwohner sage und schreibe drei prächtige Schlösser und einen mindestens ebenso prächtigen Schlossgarten verschafft. Plus auch heute noch etwas mehr Kultur, als ich von einer Kleinstadt erwarten würde. Verhilft Kleinteiligkeit zum Glück? Der Anarchist würde sagen: ja. Je größer und anonymer das Gemeinwesen, umso unglücklicher die Menschen. Herrschaftsfreiheit funktioniert am besten in überschaubaren Einheiten.
Im Unteren Schloss erkunden wir eine Textilschauwerkstatt. Im 19. Jahrhundert gab es in Greiz viele Spinnereien, Seidenwebereien und die höchste Millionärsdichte Deutschlands. Heute gibt es zum Beispiel noch die Firma www.blaudruck-greiz.de, und ich erstehe von ihr ein Lavendelsäckchen für meine Katze-hütende Freundin Maja in Stuttgart. Im Anschluss lockt die liebevoll gestaltete Sonderausstellung „Das Erbe der Buckelapotheker“ nebst einer Riesenmurmelbahn aus Holz. Ich erfahre, dass es ein Kräuternetzwerk Thüringen gibt (www.einfach-natuerlich.de) – und eine hohe Dichte an Kräuterfrauen und Heilpraktikerinnen direkt im Städtchen. Kräuterfrauen, die auch dichten und Bücher veröffentlichen, wie die Physiotherapeutin Cornelia Seidel. Und dass Kräuter glücklich machen – nun, das kann ich nur bestätigen.
Wir setzen uns in das zentrale Eiscafé Doimo am Puschkinplatz. Neben uns eine junge Familie mit zwei Kindern, die Mutter hochschwanger – und alle 4 ½ wirken glücklich und in sich ruhend. Im Anschluss hat Lenja uns zu einem 3D-Zeichentrickfilm überredet, das Kino ist um die Ecke. „Hotel Transsylvanien 3“ klingt nicht gerade nach „Kultur hoch 3“, aber Filmkunst gibt es nur alle ein bis zwei Wochen mittwochs, dafür dann aber auch vom Feinsten. Also Hotel Transsylvanien. Die Handlung ist erschreckend banal (warum um alles in der Welt haben Monster keine besseren Ideen für die Freizeitgestaltung als Kreuzfahrtschiffe, Pool, Glücksspiel und Disco?) – aber eine Tricks gefallen, einige Gags sind sogar lustig – und die Gesamtaussage: Menschen und Monster sind beide gleich gut und sollten in Frieden miteinander leben, die passt natürlich zu einer glücklichen Stadt wie Greiz.
Nach dem Kino gibt es noch die vielen, vielen Jugendstilhäuser in Greiz zu bewundern, von floral über symbolistisch bis Heimatkunst. Es sind so viele, dass Greiz Mitglied der internationalen, in Barcelona heimischen „Art Nouveau-Route“ ist, eine von 78 Städten auf der ganzen Welt, auf einer Ebene mit Antwerpen, Paris und Wien.
In der „Stadtmühle“ Greiz, im Herzen der Stadt neben dem Unteren Schloss und mit Blick auf den Fluss, genießen wir ausgezeichnete alkoholfreie Cocktails (ich sage nur: Spicy Ginger) und das bisher beste Essen unseres Mini-Urlaubs, Antipasti.
Ein kleiner Abendspaziergang führt uns noch durch die Anfangsgründe des Greizer Schlossparks bis hin zum Sommerpalais. Thüringen ist eh das artenreichste Bundesland, was die Flora anbelangt, und da lässt sich natürlich auch Greiz nicht lumpen, zwanzig verschiedene wilde Orchideenarten wachsen hier, und solch ausgefallene Pflanzen wie Arnika oder Großer Wiesenknopf. Aber auch mindestens ebenso seltene Tiere wie Kammmolch, Eisvogel, Wasseramsel, Uhu, Wildkatze, Kreuz- und Fischotter kann man hier mit etwas Glück beobachten. Für heute jedoch haben wir erst einmal an den Mücken genug und fahren zurück zu unseren „Drei Tannen“.