Sonntag, 5.8.2018: Greizer Karikaturen im Satiricum

Für ein Wochenende sind wir von Stuttgart ins thüringische Vogtland, nach Greiz gefahren – in die laut Krankenkasse glücklichste Stadt Deutschlands. Was macht die Greizer so glücklich? Nun, wir werden es herausfinden!

Zunächst einmal macht meinen Mann Klaus, unsere Tochter Lenja und mich glücklich, dass es heute ein wenig kühler ist als an den vorangegangen Tagen – deutlich unter dreißig Grad. Um zehn Uhr eilen wir in die Innenstadtkirche St. Marien zur ersten halben Stunde des Gottesdienstes. Sie wurde nach einem großen Stadtbrand 1805 klassizistisch wieder aufgebaut und ist heute evangelisch. Im Inneren zeigt sie sich in freundlichen Farben: viel weiß, zartgelb und orangebraun, eine fröhliche Kirche. Zu den Kirchenliedern spielt eine Kreutzbach-Orgel aus dem Jahre 1881, 1919 erweitert und mittlerweile eine der größten Thüringens. Der Pfarrer ist locker und unverkrampft. Liegt hier ein Teil der Greizer Glücks? Zumindest will der Aufsteller am Eingang es uns glauben machen: „Gott nahe zu sein, ist mein Glück“, verrät Psalm 73,28 – und das gilt ja vielleicht auch für den ein oder anderen unter Ihnen?

Dann gehen wir zum Greizer Hauptbahnhof, vorbei an Schaufenstern, die uns handschriftlich und mit Zeichnungen über berühmte Menschen unter dem Motto informieren: „Sie waren so… …frei…“. Wer war so frei? Die blinde Helen Keller zum Beispiel, der libertäre, hingerichtete Pädagoge Francesc Ferrer i Guàrdia oder die Fechterin und Opernsängerin Julie d`Aubigny. Wie ungewöhnlich für eine Kleinstadt von nur knapp 21.000 Einwohnern!

Am Bahnhof heißt uns ein Schild herzlich willkommen und wünscht uns allzeit gute Fahrt, und wir empfangen meine Schwester Gaby, die heute ihrer Erkältung zum Trotz aus Berlin angereist ist, um unser neuerworbenes Fachwerkhäuschen in Greiz-Rothental zu besichtigen. Wir würden uns freuen, wenn sie im Alter mit uns dort einzieht. Im Rothentaler Garten begrüßt uns zunächst einmal eine ausgewachsene Blindschleiche, dann erkunden wir die Gebäude. Ja, romantisch findet Gaby sie auch, aber wir merken ihr deutlich das Erschrecken ob des Renovierungsaufwands an – sie muss alles erst einmal sacken lassen.

Wir haben einen Mietwagen, und so hindert uns nichts daran, einmal kurz über die Grenze nach Sachsen zu fahren und das achte Weltwunder zu bestaunen: die Göltzschtalbrücke in Netzschkau. Einstmals war sie die größte Eisenbahnbrücke der Erde, heute ist sie immer noch unsere weltgrößte Ziegelsteinbrücke – ein Viadukt mit 78 Metern Höhe und sage und schreibe 98 Bögen. Beeindruckend!

Wir haben mittlerweile Hunger, und so setzen wir uns zurück in Thüringen und Greiz im Unteren Schloss im Restaurant „Harmonie“ auf die Terrasse nahe dem hiesigen Fluss, der Weißen Elster, genießen die Aussicht und erzählen. Lustig sind die Kloschlüssel für die Toiletten einmal quer über den Schlosshof: Sie sind an alten Esslöffeln befestigt! Hier wie überall im Städtchen zeigt sich: die Greizer sind ein freundlicher Menschenschlag.

Anschließend zeigen wir Gaby den Greizer Park (ein englischer Landschaftsgarten) und das ehemalige Sommerpalais der hiesigen Fürstenfamilie aus dem 18. Jahrhundert, beide national bedeutsam und deshalb in der Obhut der Thüringer Schlösser und Gärten. Im Satiricum des Palais‘ findet bereits zum neunten Mal die Triennale der Karikatur statt, diesmal betitelt mit „Alles lupenreine Demokraten“. Das Satiricum wurde 1975 als nationale Karikaturensammlung der DDR gegründet und übernahm zunächst einmal den reichhaltigen Fundus der fürstlichen Karkaturensammlung aus dem 17. bis 19. Jahrhundert, ergänzt durch Karikaturen aus dem Vormärz und der Revolution von 1848, Simplicissimus, Eulenspiegel, Titanic usw. Zu DDR-Zeiten der umfangreichste satirische Bilderfundus. Hier in Greiz, weil hier ja offenbar schon die Adligen einen Sinn für‘s Witzige hatten. Auch Plastikaturen, satirisch-humoristische Objekte, gilt es zu entdecken. Auf der diesjährigen Triennale stellen wirklich alle 76 deutschsprachigen Karikaturisten mit Rang und Namen aus: von A wie Renate Alf, über G wie Gerhard Glück, K wie Kriki, M wie Marunde, T wie Tetsche bis Z wie Bernd Zeller. Hier ist auf jeden Fall einer der Schlüssel für das Greizer Glück: spielerische Leichtigkeit und Humor.

Zum Schluss erkundige ich mich noch, ob die Bibliothek, die ebenfalls im Sommerpalais untergebracht ist, einen Lesesaal für die Öffentlichkeit hat. Sie hat, und mit ihren 40.000 Bänden in deutscher, englischer und französischer Sprache aus dem 17.-19. Jahrhundert werde ich hier für den Rest meines Lebens genug zum Schmökern und Entdecken haben.

Gegenüber dem Sommerpalais befindet sich das KÜCHENHAUS. Es beherbergt im Erdgeschoss ein Café mit eigener Rösterei (Brandt Kaffee) und den mit Abstand exquisitesten Genüssen unseres kleinen Wochenendausflugs: Für mich ist das die beste mexikanische Trinkschokolade meines Lebens, dazu ein veganer Großkeks der aussieht, als ob er aus Turin stammt, für die anderen zum Beispiel russischer Zupfkuchen, Käsekuchen mit frischen Johannisbeeren und Himbeer-Milchshake. Das alles dekoriert mit essbaren Chrysanthemen in lila, gelb und weiß. Himmlisch! Und: „Glück ist, wenn die Katastrophe eine Pause macht!“ philosophiert ein Schild hinter dem Tresen.

Allmählich heißt es nun, Abschied nehmen von Greiz und die Heimfahrt antreten. Vorab interessiert uns aber noch die Klinik im Leben nebst Garten des Lebens: Europas führende Klinik für naturgemäße, biologische Medizin seit über zwanzig Jahren – im Zentrum von Greiz. Krebs- und Schmerzmedizin, Fiebertherapie, Homöopathie, anthroposophische Medizin und vieles mehr bieten sie an. Wie hätten sie hier wohl mein Komplexes Regionales Schmerzsyndrom behandelt? 1.500 Ärzte, Apotheker und Heilpraktiker haben sich deutschlandweit zusammengeschlossen und unterstützen die Greizer via „Arbeitskreis im Leben“ und die „Gesundheitsstiftung im Leben“. Die Klinik können wir in der Kürze der Zeit natürlich nicht besichtigen, aber wir werfen vom Eingang und dem „Platz der Erdung“ aus einen Blick in den hübschen Garten und seine Bereiche, den Raum der Lebensfreude, die Anhöhe der Orientierung, den Raum der Transformation, den Spiegel der Selbstreflexion und den Garten der Früchte. Streng wissenschaftlich mag hier zwar vieles nicht sein, aber ein Gefühl von Ruhe und Glück vermittelt es durchaus. Gaby, die im Berliner anthroposophischen Krankenhaus Havelhöhe arbeitet, ist sehr angetan.

Unsere Heimfahrt gen Südwesten entwickelt sich zu einem stundenlangen Sonnenuntergang, gerahmt von den schwarzen Büschen und Bäumen links und rechts der Autobahn, zartgelb, hellblau, rosa, pink und orange. Außergewöhnlich und wunderschön. Kurz vor 23 Uhr geben wir die Schlüssel unseres Mietwagens ab und fahren mit Bus und Bahn nach Hause. Katze Kalas begrüßt uns freudig, meine Freundin Maja hat sich während unserer Abwesenheit sehr gut um sie gekümmert.

Samstag, 4.8.2018: Greiz – Zu Besuch in der glücklichsten Stadt Deutschlands

Ich bin in der Ex-Jugendherberge Langenwetzendorf kurz vor halb sechs Uhr aufgewacht und habe die frische, kühle Thüringer Luft genossen. Der kettenrauchende und Rauchmelder-auslösende Gast vom Vortag sitzt schon draußen, wartend, rauchend, und wird schließlich von einem weißen Lieferwagen abgeholt. Ich schaue zu, Stille trotz Auto, Entspannung, Mann und Tochter schlafen noch tief und fest. Vielleicht ist er Saisonarbeiter oder Monteur? Eine Taube gurrt, eine Amsel hüpft über den Rasen und die Kätzchen genießen das Leben in diesem Kätzchenparadies.

Bevor wir nach dem Frühstück gen Greiz starten, müssen wir noch eines herausfinden: Was ist eine Bio-Landschule? Langenwetzendorf hat nämlich nicht nur die Ex-Jugendherberge und ein Freibad mit Riesenrutsche, sondern eben auch eine Bio-Landschule. Leider verrät keine Tafel am historistischen Schulgebäude, was es mit dem Namen auf sich hat, und so muss ich die „Ostthüringer Zeitung“ im Internet zu Rate ziehen:

Für ihr Engagement für die Umwelt wurden 59 Schulen in Thüringen durch Umweltministerin Anja Siegesmund (Grüne) und Bildungsminister Helmut Holter (Linke) ausgezeichnet. Auch die Bio-Landschule in Langenwetzendorf hatte sich für die Schuljahre 2015 bis 2018 beim Wettbewerb um den Titel „Thüringer Nachhaltigkeitsschule – Umweltschule in Europa“ beteiligt. Mit Erfolg. Die Regelschule wurde seit 1999 ununterbrochen als Umweltschule ausgezeichnet, nun bekam sie zudem die Ehrung in der Kategorie „Gold“. Überzeugen konnten die Langenwetzendorfer nicht nur mit einem Projekt, sondern gleich mit mehreren, und durch die außerschulischen Kooperationen mit dem Bio-Seehotel, der Gemeinde sowie mit dem Imkerverein. So verweist (Lehrer) Tom Jungk nicht nur auf das Engagement von derzeit neun Schülern in seiner Öko-Gang, sondern auch auf die Pflege der Apfelhecke, ein Feuchtbiotop, in das eine Umweltpumpe eingebaut wurde, die Neugestaltung des Insektenhotels sowie auf Pflege- und Umgestaltungsarbeiten am Hochbeet der Schule.“

Donnerwetter! Trotz grün-schwarzer Landesregierung haben wir so etwas hier bei uns in Baden-Württemberg nicht. Da scheint das Thüringer Rot-rot-grün besser zu funktionieren. Ein Puzzlesteinchen auch zum Greizer Glück?

Aber nun fahren wir erst einmal nach Greiz-Rothental. Mein Mann Klaus hat hier nämlich vor ein paar Tagen „für‘n Appl und‘n Ei“ ein altes Fachwerkhaus mit Garten und Blick auf den hiesigen Fluss, die Weiße Elster, erworben. Hier werden wir wohnen, wenn wir in Rente gehen – aber vorher heißt es noch: vieeeel renovieren! In einem der Zimmer hängen Pflanzen zum Trocknen, wie gemacht für mich alte Kräuterfrau. Im Garten wachsen Salbei, Maiglöckchen, Pflaumen, Kirschen, Himbeeren. Das Klo ist noch ein Plumpsklo im Freien. Ich lasse mich darauf ein und übersehe einmal die auf uns zukommende Arbeit – dann ist es wunderbar romantisch hier! Klaus hatte natürlich alles vor Abschluss des Kaufvertrags besichtigt, aber für Tochter Lenja und mich ist es die erste Begegnung. Nicht nur wohnen wollen wir hier (vielleicht mit Klausens Bruder und meiner Schwester zusammen), sondern es soll auch ein „Bioglückshaus Greiz“ entstehen, mit Seminarräumen und öffentlicher Bibliothek.

Von der Straße „An der goldenen Aue“ (welch schöner Name!) werfen wir noch einen letzten Blick auf unser Wolkenkuckucksheim. Weil meine Hand immer noch stark lädiert ist seit meinem Unfall Anfang Mai, wollen wir das Wochenende nicht der Arbeit, sondern dem Erkunden der Greizer Schönheit und des Greizer Glücks widmen. Was also ist das Geheimnis der Greizer? Der vergoldete Spiegel und die Sonne, die an der Wand der Pizzeria „Da Papu“ hängen? Der Name erinnert mich an den Film „La Vita è bella“ des Komikers Roberto Benigni – der kleine Junge dort nennt seinen Vater „Papu“. Nun, nicht mehr als ein winziges Puzzleteilchen.

Neben der Pizzeria befinden sich der Biomarkt und die Peanuts-Biokneipe von Greiz. Sie haben beide nur von montags bis freitags geöffnet – wie überhaupt so einiges hier. Auch ein Grund für das Greizer Glück? Wahlspruch: „Eine Fünf-Tage-Woche ist auch für Selbständige mehr als genug.”?

Oder vielleicht hilft das Motto der Greizer im Prospekt der Tourist Information weiter: „Wir leben nur, um Schönheit zu entdecken. Alles andere ist eine Art des Wartens.“ (Khalil Gibran). Vielleicht passt dazu, dass der Autor dieser Zeilen eben nicht nur Autor, sondern auch Maler und Philosoph war, und dass er in zwei völlig unterschiedlichen Ländern lebte. Ein Weltenbürger.

Wir überqueren die Weiße Elster und gehen in das Untere Schloss. Greiz, die „Perle des Vogtlandes“, war früher einmal die Hauptstadt des aller-aller-allerkleinsten Fürstentums Deutschlands. Das hat ihm auf gerade einmal 21.000 Einwohner sage und schreibe drei prächtige Schlösser und einen mindestens ebenso prächtigen Schlossgarten verschafft. Plus auch heute noch etwas mehr Kultur, als ich von einer Kleinstadt erwarten würde. Verhilft Kleinteiligkeit zum Glück? Der Anarchist würde sagen: ja. Je größer und anonymer das Gemeinwesen, umso unglücklicher die Menschen. Herrschaftsfreiheit funktioniert am besten in überschaubaren Einheiten.

Im Unteren Schloss erkunden wir eine Textilschauwerkstatt. Im 19. Jahrhundert gab es in Greiz viele Spinnereien, Seidenwebereien und die höchste Millionärsdichte Deutschlands. Heute gibt es zum Beispiel noch die Firma www.blaudruck-greiz.de, und ich erstehe von ihr ein Lavendelsäckchen für meine Katze-hütende Freundin Maja in Stuttgart. Im Anschluss lockt die liebevoll gestaltete Sonderausstellung „Das Erbe der Buckelapotheker“ nebst einer Riesenmurmelbahn aus Holz. Ich erfahre, dass es ein Kräuternetzwerk Thüringen gibt (www.einfach-natuerlich.de) – und eine hohe Dichte an Kräuterfrauen und Heilpraktikerinnen direkt im Städtchen. Kräuterfrauen, die auch dichten und Bücher veröffentlichen, wie die Physiotherapeutin Cornelia Seidel. Und dass Kräuter glücklich machen – nun, das kann ich nur bestätigen.

Wir setzen uns in das zentrale Eiscafé Doimo am Puschkinplatz. Neben uns eine junge Familie mit zwei Kindern, die Mutter hochschwanger – und alle 4 ½ wirken glücklich und in sich ruhend. Im Anschluss hat Lenja uns zu einem 3D-Zeichentrickfilm überredet, das Kino ist um die Ecke. „Hotel Transsylvanien 3“ klingt nicht gerade nach „Kultur hoch 3“, aber Filmkunst gibt es nur alle ein bis zwei Wochen mittwochs, dafür dann aber auch vom Feinsten. Also Hotel Transsylvanien. Die Handlung ist erschreckend banal (warum um alles in der Welt haben Monster keine besseren Ideen für die Freizeitgestaltung als Kreuzfahrtschiffe, Pool, Glücksspiel und Disco?) – aber eine Tricks gefallen, einige Gags sind sogar lustig – und die Gesamtaussage: Menschen und Monster sind beide gleich gut und sollten in Frieden miteinander leben, die passt natürlich zu einer glücklichen Stadt wie Greiz.

Nach dem Kino gibt es noch die vielen, vielen Jugendstilhäuser in Greiz zu bewundern, von floral über symbolistisch bis Heimatkunst. Es sind so viele, dass Greiz Mitglied der internationalen, in Barcelona heimischen „Art Nouveau-Route“ ist, eine von 78 Städten auf der ganzen Welt, auf einer Ebene mit Antwerpen, Paris und Wien.

In der „Stadtmühle“ Greiz, im Herzen der Stadt neben dem Unteren Schloss und mit Blick auf den Fluss, genießen wir ausgezeichnete alkoholfreie Cocktails (ich sage nur: Spicy Ginger) und das bisher beste Essen unseres Mini-Urlaubs, Antipasti.

Ein kleiner Abendspaziergang führt uns noch durch die Anfangsgründe des Greizer Schlossparks bis hin zum Sommerpalais. Thüringen ist eh das artenreichste Bundesland, was die Flora anbelangt, und da lässt sich natürlich auch Greiz nicht lumpen, zwanzig verschiedene wilde Orchideenarten wachsen hier, und solch ausgefallene Pflanzen wie Arnika oder Großer Wiesenknopf. Aber auch mindestens ebenso seltene Tiere wie Kammmolch, Eisvogel, Wasseramsel, Uhu, Wildkatze, Kreuz- und Fischotter kann man hier mit etwas Glück beobachten. Für heute jedoch haben wir erst einmal an den Mücken genug und fahren zurück zu unseren „Drei Tannen“.