Für ein Wochenende sind wir von Stuttgart ins thüringische Vogtland, nach Greiz gefahren – in die laut Krankenkasse glücklichste Stadt Deutschlands. Was macht die Greizer so glücklich? Nun, wir werden es herausfinden!
Zunächst einmal macht meinen Mann Klaus, unsere Tochter Lenja und mich glücklich, dass es heute ein wenig kühler ist als an den vorangegangen Tagen – deutlich unter dreißig Grad. Um zehn Uhr eilen wir in die Innenstadtkirche St. Marien zur ersten halben Stunde des Gottesdienstes. Sie wurde nach einem großen Stadtbrand 1805 klassizistisch wieder aufgebaut und ist heute evangelisch. Im Inneren zeigt sie sich in freundlichen Farben: viel weiß, zartgelb und orangebraun, eine fröhliche Kirche. Zu den Kirchenliedern spielt eine Kreutzbach-Orgel aus dem Jahre 1881, 1919 erweitert und mittlerweile eine der größten Thüringens. Der Pfarrer ist locker und unverkrampft. Liegt hier ein Teil der Greizer Glücks? Zumindest will der Aufsteller am Eingang es uns glauben machen: „Gott nahe zu sein, ist mein Glück“, verrät Psalm 73,28 – und das gilt ja vielleicht auch für den ein oder anderen unter Ihnen?
Dann gehen wir zum Greizer Hauptbahnhof, vorbei an Schaufenstern, die uns handschriftlich und mit Zeichnungen über berühmte Menschen unter dem Motto informieren: „Sie waren so… …frei…“. Wer war so frei? Die blinde Helen Keller zum Beispiel, der libertäre, hingerichtete Pädagoge Francesc Ferrer i Guàrdia oder die Fechterin und Opernsängerin Julie d`Aubigny. Wie ungewöhnlich für eine Kleinstadt von nur knapp 21.000 Einwohnern!
Am Bahnhof heißt uns ein Schild herzlich willkommen und wünscht uns allzeit gute Fahrt, und wir empfangen meine Schwester Gaby, die heute ihrer Erkältung zum Trotz aus Berlin angereist ist, um unser neuerworbenes Fachwerkhäuschen in Greiz-Rothental zu besichtigen. Wir würden uns freuen, wenn sie im Alter mit uns dort einzieht. Im Rothentaler Garten begrüßt uns zunächst einmal eine ausgewachsene Blindschleiche, dann erkunden wir die Gebäude. Ja, romantisch findet Gaby sie auch, aber wir merken ihr deutlich das Erschrecken ob des Renovierungsaufwands an – sie muss alles erst einmal sacken lassen.
Wir haben einen Mietwagen, und so hindert uns nichts daran, einmal kurz über die Grenze nach Sachsen zu fahren und das achte Weltwunder zu bestaunen: die Göltzschtalbrücke in Netzschkau. Einstmals war sie die größte Eisenbahnbrücke der Erde, heute ist sie immer noch unsere weltgrößte Ziegelsteinbrücke – ein Viadukt mit 78 Metern Höhe und sage und schreibe 98 Bögen. Beeindruckend!
Wir haben mittlerweile Hunger, und so setzen wir uns zurück in Thüringen und Greiz im Unteren Schloss im Restaurant „Harmonie“ auf die Terrasse nahe dem hiesigen Fluss, der Weißen Elster, genießen die Aussicht und erzählen. Lustig sind die Kloschlüssel für die Toiletten einmal quer über den Schlosshof: Sie sind an alten Esslöffeln befestigt! Hier wie überall im Städtchen zeigt sich: die Greizer sind ein freundlicher Menschenschlag.
Anschließend zeigen wir Gaby den Greizer Park (ein englischer Landschaftsgarten) und das ehemalige Sommerpalais der hiesigen Fürstenfamilie aus dem 18. Jahrhundert, beide national bedeutsam und deshalb in der Obhut der Thüringer Schlösser und Gärten. Im Satiricum des Palais‘ findet bereits zum neunten Mal die Triennale der Karikatur statt, diesmal betitelt mit „Alles lupenreine Demokraten“. Das Satiricum wurde 1975 als nationale Karikaturensammlung der DDR gegründet und übernahm zunächst einmal den reichhaltigen Fundus der fürstlichen Karkaturensammlung aus dem 17. bis 19. Jahrhundert, ergänzt durch Karikaturen aus dem Vormärz und der Revolution von 1848, Simplicissimus, Eulenspiegel, Titanic usw. Zu DDR-Zeiten der umfangreichste satirische Bilderfundus. Hier in Greiz, weil hier ja offenbar schon die Adligen einen Sinn für‘s Witzige hatten. Auch Plastikaturen, satirisch-humoristische Objekte, gilt es zu entdecken. Auf der diesjährigen Triennale stellen wirklich alle 76 deutschsprachigen Karikaturisten mit Rang und Namen aus: von A wie Renate Alf, über G wie Gerhard Glück, K wie Kriki, M wie Marunde, T wie Tetsche bis Z wie Bernd Zeller. Hier ist auf jeden Fall einer der Schlüssel für das Greizer Glück: spielerische Leichtigkeit und Humor.
Zum Schluss erkundige ich mich noch, ob die Bibliothek, die ebenfalls im Sommerpalais untergebracht ist, einen Lesesaal für die Öffentlichkeit hat. Sie hat, und mit ihren 40.000 Bänden in deutscher, englischer und französischer Sprache aus dem 17.-19. Jahrhundert werde ich hier für den Rest meines Lebens genug zum Schmökern und Entdecken haben.
Gegenüber dem Sommerpalais befindet sich das KÜCHENHAUS. Es beherbergt im Erdgeschoss ein Café mit eigener Rösterei (Brandt Kaffee) und den mit Abstand exquisitesten Genüssen unseres kleinen Wochenendausflugs: Für mich ist das die beste mexikanische Trinkschokolade meines Lebens, dazu ein veganer Großkeks der aussieht, als ob er aus Turin stammt, für die anderen zum Beispiel russischer Zupfkuchen, Käsekuchen mit frischen Johannisbeeren und Himbeer-Milchshake. Das alles dekoriert mit essbaren Chrysanthemen in lila, gelb und weiß. Himmlisch! Und: „Glück ist, wenn die Katastrophe eine Pause macht!“ philosophiert ein Schild hinter dem Tresen.
Allmählich heißt es nun, Abschied nehmen von Greiz und die Heimfahrt antreten. Vorab interessiert uns aber noch die Klinik im Leben nebst Garten des Lebens: Europas führende Klinik für naturgemäße, biologische Medizin seit über zwanzig Jahren – im Zentrum von Greiz. Krebs- und Schmerzmedizin, Fiebertherapie, Homöopathie, anthroposophische Medizin und vieles mehr bieten sie an. Wie hätten sie hier wohl mein Komplexes Regionales Schmerzsyndrom behandelt? 1.500 Ärzte, Apotheker und Heilpraktiker haben sich deutschlandweit zusammengeschlossen und unterstützen die Greizer via „Arbeitskreis im Leben“ und die „Gesundheitsstiftung im Leben“. Die Klinik können wir in der Kürze der Zeit natürlich nicht besichtigen, aber wir werfen vom Eingang und dem „Platz der Erdung“ aus einen Blick in den hübschen Garten und seine Bereiche, den Raum der Lebensfreude, die Anhöhe der Orientierung, den Raum der Transformation, den Spiegel der Selbstreflexion und den Garten der Früchte. Streng wissenschaftlich mag hier zwar vieles nicht sein, aber ein Gefühl von Ruhe und Glück vermittelt es durchaus. Gaby, die im Berliner anthroposophischen Krankenhaus Havelhöhe arbeitet, ist sehr angetan.
Unsere Heimfahrt gen Südwesten entwickelt sich zu einem stundenlangen Sonnenuntergang, gerahmt von den schwarzen Büschen und Bäumen links und rechts der Autobahn, zartgelb, hellblau, rosa, pink und orange. Außergewöhnlich und wunderschön. Kurz vor 23 Uhr geben wir die Schlüssel unseres Mietwagens ab und fahren mit Bus und Bahn nach Hause. Katze Kalas begrüßt uns freudig, meine Freundin Maja hat sich während unserer Abwesenheit sehr gut um sie gekümmert.