Was sollen wir mit all der Schönheit?

Israelitischer Teil des alten Hoppenlau-Friedhofs im Spät-Spätherbst


Zufällig am letzten Tag bevor bei uns im Ländle von jetzt auf eben verschärfte Anti-Corona-Regeln in Kraft traten, besuchte ich den denkmalgeschützten Hoppenlau-Friedhof in der Stuttgarter Innenstadt und das Literaturhaus – eine meiner Freundinnen hatte sich das kleine, feine “Lexikon der Schönheit” gewünscht, welches es fast nur dort, dafür aber in vielen Farben zu kaufen gibt.

Los ging’s an der Liederhalle, dank der Mosaiken eines der schönsten modernen Gebäude in Stuttgart, dann entdeckte ich den israelitischen Teil des Friedhofs, und schließlich auch die Gräber des Dichter-Revolutionärs Christian Friedrich Schubart (1737-91), sehr verwittert, und recht in der Nähe das gut gepflegte Grab Wilhelm Hauffs (1802-27), Reproduzent antijüdischer Klischees, aber gleichzeitig Verfasser von Märchen wie “Kalif Storch”, “Zwerg Nase”, “Das kalte Herz” oder von Geschichten wie “Das Wirtshaus im Spessart”. Ihn kannte ich schon als kleines Kind, denn von seinen orientalisierenden Märchen hatten wir Diashow-Erzählungen, untermalt von russischer Ballettmusik…. Daaa-da-da-da-da-daaa-da-daaa.

Und dann das Literaturhaus, davor eine Outdoor-Plakat-Comic-Ausstellung, und darin eine Show von Kleinverlagen. Mit dabei ein Herbstgedicht des Dänen Rasmus Nikolajsen, das den Titel für diesen Beitrag hier liefert. Wohin sollen wir denn mit all der Schönheit, beim Betrachten der gelben, roten und braunen Blätter im Park, der Schwäne, die ihren Hals recken und mit den Flügeln schlagen, wenn wir sehen, das gleichzeitig Menschen in diesem Park schlafen, weil sie kein Bett haben, was sollen wir mit all den Blättern und Büchern? Was sollen wir mit all den Wolken, die nichts vermögen, wenn ein Freund aus dem Fenster springt und zu Boden fällt wie eine Schneeflocke, wie ein Blatt, und man sich nach dem Begräbnis betrinken muss und sich verwandeln muss in etwas anderes, in einen Jüngeren? Wie lassen wir wie der Baum seine Blätter die Geschichten los, die Geschichten von Gestaltwandlern, die sowohl Mensch als auch Tier sein können, heute ein grünes Blatt weit oben, morgen ein gelbes am Boden? Wir betrachten das Fallen der Blätter wie einen mittelalterlichen Totentanz und üben, sagt Rasmus, die Schritte unseres eigenen Todes und all das, was wir nicht erzwingen können und was die Zeit herbeiführen wird. Ein Gedicht, geschrieben, während die Blätter von den Bäumen fallen…

Für mich der schönste Tag seit langem und coronabedingt vielleicht für lange – abgesehen davon, dass drei Tage später mein Mann aus Dänemark zu Besuch gekommen ist. Das ist das allerschönste.

Anschriften:

Hoppenlaufriedhof, Rosenbergstr. 7, 70174 Stuttgart

Literaturhaus, Breitscheidstr. 4, 70174 Stuttgart, www.literaturhaus-stuttgart.de

Rasmus Nikolajsen, was sollen wir mit all der schönheit? Herbstgedicht, aus dem Dänischen von Sarah Fengler, 12 Euro, erschienen bei parasitenpresse, Knithaki, Richard-Wagner-Str. 18, 50674 Köln, im Februar 2020, www.parasitenpresse.de

Montag, 20.8.2018: Schön vernetzt

Wärmeentwicklung des Weltalls vom Urknall bis heute
Das gesamte Video zum Downloaden unter: http://www.illustris-project.org/movies/illustris_movie_dome4k_gastemp_preview.mp4

Ist es nicht schön, unser Weltall? Alles hängt mit allem zusammen. Das Video ist Teil der Ausstellung „Netzwerk“ in der Stuttgarter ifa-Galerie (noch bis zum 16. September 2018, Eintritt kostenlos).

Das ifa selbst ist Teil eines Netzwerkes, denn die Abkürzung steht für das Institut für Auslandsbeziehungen am Charlottenplatz, und was sind Auslandsbeziehungen anderes als das Schaffen weltweiter Netzwerke?

Es gibt viele Netze, schöne, handwerklich geknüpfte Fischernetze, aber auch die globalen Firmennetzwerke der Mega-Kapitalisten von Nestlé bis Procter & Gamble, schwer zu durchschauen für diejenigen, die sich nicht in den Netzen der Superreichen und -mächtigen verfangen wollen.

Vernetztes Denken, das war es, was wir Jugendlichen in den 70er Jahren gerne dem linearen Denken und der Umweltzerstörung entgegenstellen wollten – zumindest die wenigen von uns, die damals „grün“ dachten und Klassenausflüge in das AKW Biblis zwecks Demonstration, wie sicher diese Technologie ist, infrage stellten.

Geändert hat sich (bis auf ein paar grüne Mäntelchen hier und da und das sog. Greenwashing) wenig: Wir steuern weiterhin frohen Mutes auf die Klimakatastrophe zu – dieser Sommer war bisher wärmer als alle vorhergehenden.

Welche alternativen Netzwerke können wir dem entgegensetzen? Die Gemeinwohl-Ökonomie von Christian Felber vielleicht (https://www.ecogood.org/de/). Aber vielleicht braucht es auch noch radikalere Ansätze.

Die Eigenschaft eines Netzes: Ungenutzt ist es leer und kann – je nach Material – sogar in sich zusammenfallen. Es schreit gerade zu danach, mit etwas gefüllt zu werden – mit Sinn, mit einem Körper. Entweder, wir sind das Netz und vernetzen uns, oder wir fangen damit Fische. Das Netz gibt dem Inhalt (oder der Leere in seinem Innern) eine Form. Hier stülpt meine Tochter Lenja sich ein flexibles Metallnetz über und legt sich danach allein in eine Hängematte für drei Personen.

In „Die Form der Schönheit“ beschreibt Frank Berzbach Vernetzung als eine spirituelle Dimension der Leere, die zugleich Form ist. Diese Vernetzung „ist allerdings sehr viel tiefer gedacht – alles ist mit allem verbunden, wir können „all-eins“ werden mit der Welt, die Verbindungen in zeitlicher und sachlicher und sozialer Hinsicht erfahren“ – so, wie es Zen-Meistern und christlichen Mystikern in Stille und Meditation glückt. Und damit landen wir dann letztlich wieder beim ersten Bild dieses Blog-Beitrags, der Schönheit des vernetzten Weltalls.