Hier ist es schön: Blick aus unserer Dachgeschoss-Ferienwohnung auf die Greizer Neustadt
Am Freitag sind meine Familie und ich wieder nach meiner Morbus-Sudeck-Behandlung im Krankenhaus mit einem Mietwagen ins ostthüringische Greiz gefahren. Durchaus schwierig, eine Unterkunft zu finden, alles einigermaßen Bezahlbare schien ausgebucht, aber schließlich kamen wir doch in einer netten Dachgeschosswohnung in der Neustadt unter, mit einem phantastischen Preis-Leistungs-Verhältnis.
Der Grund für unser Kommen: Wir haben endlich von der Stadt die Erlaubnis bekommen, die Wohnung unseres letzten, bereits Ende Mai verstorbenen Mieters zu räumen. 69 Jahre ist der Mann alt geworden, er war Alkoholiker, Kettenraucher und litt unter dem Vermüllungssyndrom. Ich habe noch nie so ein ekelhafte Wohnung betreten, geschweige denn ausgeräumt, trotz Atemschutz und Ganzkörperkondom à la Tatortreiniger – den Gestank atme ich ein, und er hängt auch zum Schluss in meinem schwarzen gewachsten Rock fest. Und: Die Wohnung lebt. Verschimmelt ist eh alles auf den ungewaschenen Tellern und in den ebenso ungewaschenen Töpfen, der Schimmel ist sogar schon eingetrocknet. Nachdem ich auf den Eiern im Kühlschrank hunderte von quicklebendigen Maden entdeckt und einmal „Hilfe!“ gerufen habe, versiegeln wir ihn mit Panzerband, bevor wir ihn transportieren.
Samstag und Sonntag brauchen wir, um alles in Schwerlastsäcke zu packen (ich) und die Möbel klein zuschlagen (mein Mann Klaus) und vor das Haus zu tragen – unsere Tochter Lenja lassen wir lieber mit dem Allessauger in den anderen Stockwerken saugen und später wischen, zu groß ist mir als Mutter das Gesundheitsrisiko für mein Kind.
Sehr einsam sei er gewesen, sagt eine Nachbarin mit kleinem Hund, drei Entziehungskuren habe er gemacht, sie habe ihn einmal in seiner Wohnung besucht, er habe ihr leid getan, aber sie beneide uns nicht um unsere Aufgabe. Wann kippt es bei einem Menschen? Was genau ist ihm widerfahren? Er hatte zu DDR-Zeiten viele Preise gewonnen im Federball und Tischtennis und auch im Angeln, war Maschinenbaumeister, Unteroffizier, NDPD-Mitglied (ging nach der Wiedervereinigung in der FDP auf), Gewerkschaftsmitglied und irgendwann auch einmal verheiratet. Nach der Wende: Keinerlei Urkunden mehr. Später gab es dann eine Helga, die im Stockwerk unter ihm wohnte und von der er noch drei Namensbecher hatte. Sie starb in jungen Jahren 2005. Wann ist es gekippt: Nach der Wende? Oder als Helga starb? Wann zerbricht ein Mensch? Wie kann ein Mensch so unglücklich werden? Und wo hat die Stadt ihn eigentlich begraben?
Für den Montag haben wir einen Zehn-m³-Mischcontainer bestellt, aber der erweist sich als zu klein, wir brauchen die doppelte Menge. Um 16 Uhr ist alles in den Containern, wir dürften sogar noch etwas Elektroschrott obendrauf packen, aber dann müsste man wieder hin- und herräumen, denn wegen der Oberleitungen im Stadtteil soll nichts überstehen, und wir sind alle mit unseren Kräften am Ende.
Wir waren in der ganzen Zeit dankbar für die gute Dusche in unserer Ferienwohnung, für das Bio-Essen von Aldi (der Greizer Biomarkt hatte am Freitag leider schon vor unserer Ankunft geschlossen und ist samstags eh zu) – und nach unserer Montagsaktion schließlich für Waffeln-mit-Heidelbeeren und mehr im Eiscafé Doimo, das wir schon von unserem letzten Aufenthalt kannten. Dann heißt es noch Greizer Sekt und Grün-Bitter aus dem ebenfalls vogtländischen Reichenbach für unseren Vermieter besorgen, der während unserer Abwesenheit sich um Katze Kalas gekümmert hat – und zurück geht es nach Stuttgart. Auf unserem Weg von einem stark sanierungsbedürftigen Doppelhaus zu einem Ökoglückshaus Greiz sind wir ein gutes Stück weitergekommen.
Und noch ein Positives hat dieses Horror-Wochenende (das ich vermutlich mein Lebtag nicht vergessen werde): meine Hand ist deutlich beweglicher – und ich konnte sogar das Opiat um weitere 33% verringern. Vielleicht sollte ich häufiger Entrümpeln….