Sonntag, 19.8.2018: Im Dornröschenschlaf – Das Stuttgarter Bohnenviertel

Eingezwängt zwischen der vielstspurigen Hauptstätter- und der ebenfalls dicht befahrenen Olgastraße, nach dem Zweiten Weltkrieg dank der autoaffinen Stadtplaner von Schlossgarten und Königstraße ebenso chirurgisch sauber abgetrennt wie die Stuttgarter Museumsmeile, ist der einzig erhaltene Teil unserer historischen Altstadt von vielen vergessen worden.

Schon im 15. Jahrhundert entstand das Bohnenviertel als erstes Wohnquartier außerhalb der Stadtmauer. Benannt wurde es nach den Kletterbohnen, die die hier ansässigen kleinen Handwerker und Weinbauern in ihren Gärten anpflanzten und die girlandenartig an den Häusern hingen. Bohnen sind im Bohnenviertel inzwischen selten geworden, doch sein Charme hat sich erhalten, und auch die neueren Bauten passen sich zumeist behutsam seinem Flair an.

Mich verbindet viel mit diesen wenigen Straßenzügen: Sie gehörten mit zum ersten, was mir meine Vorgängerin bei Thieme zeigte, die gerne in Ruhestand gehen wollte, sich aber nicht sicher fühlte, ob ich als Neubürgerin der Stadt wohl treu bleiben würde. Nun, ich bin geblieben, mittlerweile seit dem 1. April 1997 – und das war kein Aprilscherz.

Ich denke an den koscheren New Yorker Kollegen, der dringend von mir wissen wollte, wo das Stuttgarter Rotlichtviertel liegt – hinter der Leonhardskirche, vom Bohnenviertel aus gesehen. Wir fanden es nicht.

Ich denke an die ersten katholischen Kita-Erfahrungen unserer Tochter Lenja in der Olgastraße – zumindest bis zu ihrem dritten Geburtstag positiv, erst danach waren wir froh, als wir endlich einen Montessori-Kindergartenplatz für sie auf der Waldau ergatterten. Aber zuvor haben wir noch mitgeholfen, die Fassade der „Wilden Hilde“ mit Mosaiken zu verschönern, mein heutiger Mann Klaus hat das Clownsgesicht gestaltet, ich die rote Spirale auf grünem Grund.

Ich denke an meine Ausbildung zur Märchenerzählerin durch den Stuttgarter Märchenkreis – sie fand in den Räumlichkeiten des Waldorfkindergartens Allerleirauh statt, in der Rosenstraße. Auch so ein verzaubertes und verwunschenes Mädchen, die Allerleirauh, ebenso wie Dornröschen und das ganze Viertel.

Ich denke an die Hochzeit mit Klaus und Lenja (die tatsächlich die Heiratsurkunde mit unterschreiben durfte) – wir feierten am Valentinstag 2014 im Zauberlehrling ebenfalls in der Rosenstraße, einem der besten Restaurants Stuttgarts.

Ich denke an meine Suche nach einer passenden Lokalität für mein geplantes Kräutercafé – eine Zeitlang glaubte ich, es im Bohnenviertel gefunden zu haben, aber der verlangte Preis war zu hoch.

Das Bohnenviertel ist wunderbar kreativ, hier gibt es Goldschmiede mit ganz ausgefallenen Ideen, in der Olgastraße einen der schönsten Blumenläden Stuttgarts, schräg gegenüber die „Pappnase“, ein Laden für Jonglier- und Zirkusbedarf. Verschrobene Antiquitätenläden, kleine Modeateliers, das Café Königx als altgediente Institution im blaugoldenen Design und selbstverständlich das Stuttgarter Schriftstellerhaus in der Kanalstraße, in dem Stipendiaten wohnen und regelmäßig Lesungen stattfinden, die nächste am 14. September über die Literatin Annette Kolb.

Und es gibt Mooswände (s.o.), die die Stadt Stuttgart am Charlottenplatz aufgestellt hat, um das Feinstaubs Herrin zu werden – freundlicherweise gleich mit Holzbänken versehen.

Am anderen Ende des Bohnenviertels, am Schellenturm, wird Glück gewünscht. Es ist ein hübsches Fachwerkgebäude, leider mit düsterer Vergangenheit – früher diente es als Gefängnis.

Auch heute entdecken wir etwas Neues: das Bistro-Restaurant „Die Wunderkammer“, mit viel Bio im Angebot. Wir sitzen daußen unter bunten Südsee-Bast-Sonnenschirmen und genießen unter anderem eine „Morgenfreude“ (das ist ein Croissant mit Aprikosenmarmelade) und eine hausgemachte Himbeerlimonade. Dass ich Veganerin bin, bereitet überhaupt keine Schwierigkeiten, der Papaya-Mango Salat mit Cashewkernen, Koriander, geröstetem Sesamöl und Stauferico-Schinken mit hausgemachtem Bananenbrot wird einfach ohne den Schinken serviert und ist extrem lecker. Und dass die Südcola vom Hersteller mit Vitamin C angereichert ist, dafür können sie nichts. Dazu eine sehr nette Bedienung (Simone) nebst einem jungen Mann mit schönen Hosenträgern. Wir freuen uns, wenn Ihr unsere Wunderkammer ein Stück glücklicher verlasst, als Ihr hineingegangen seid“, schreiben sie auf ihrer Webseite – und das tun wir tatsächlich: https://www.wunderkammer-stuttgart.de/

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