Donnerstag, 6.9.2018: Reiseglück

Auch wenn das nun nicht zum täglichen Beüben meiner Stärken wie dem Schönheitssinn gehört: Reisen macht mich glücklich, je weiter, je besser und: je fremdländischer, je besser. Es gibt nur eine Ausnahme: Ich reise nicht gern in Kriegs- und Krisengebiete. Ich habe das sowohl in Türkisch-Kurdistan (damals unter Kriegsrecht) als auch in Israel-Westjordanland-Gazastreifen erlebt und weiß: Ich will nicht Angst um mein Leben oder vor Verhaftung aus politischen Gründen haben.

Ich vermute, dass die Lust am Reisen genetisch bedingt ist: Mein Urgroßvater fuhr zur See und arbeitete später bei der Bahn, nachdem eine Trosse ihm die Hand zertrümmert hatte. Man sagt, er habe an jedem Endbahnhof eine Geliebte gehabt. Mein Großvater wiederum arbeitete vor dem Dritten Reich in Mailand und Barcelona und musste schließlich vor den Nazis über Polen in die Schweiz fliehen, wo er bis 1948 lebte.

Mein Vater schließlich hat schon in den 60er und 70er Jahren mit uns Kindern große Reisen unternommen, als die meisten Leute noch jahraus jahrein nur an die Nordsee oder in die Berge nach Österreich fuhren. Als ich sechs war, feierten wir mit vielen anderen das Mitssommerfest in Südschweden. Später lernten wir auch Nordschweden kennen und außerdem Dänemark, Finnland, Russland (Leningrad!), Frankreich, die Schweiz natürlich, Österreich, Jugoslawien, Griechenland und Italien. Und selbstverständlich hatte mein Vater alle Segelscheine, auch wenn er nie mit mir gesegelt ist.

Die massiven Glücksgefühle beim Reisen habe ich jedoch erst kennengelernt, als ich es nach dem Studium zum ersten Mal wagte, allein zu verreisen: Gebucht hatte ich lediglich den Flug und die ersten drei Nächte in der Jugendherberge von Reykjavik, und reisen wollte ich mit dem Linienbus einmal rund um Island. Schon im Flieger hatte ich Glückstränen in den Augen, später kamen sie dann auch einmal im Bus, als die Fensterscheibe das Licht in einen Regenbogen verwandelte – und beim unerwarteten Anblich des Polarlichts (es war erst September!).

“Über den Wolken muss die Freiheit wohl grenzenlos sein”, singt Reinhard Mey, und ich kann das bestätigen, selbst bei Geschäftsreisen weine ich manchmal vor Glück, wenn wir die Wolkendecke durchstoßen haben. Mittlerweile zahle ich natürlich den CO²-Ausgleich via atmosfair (https://www.atmosfair.de/de/), damit mein Fliegen nicht andere unglücklich macht.

Am allerliebsten aber reise ich mit und schlafe ich auf Schiffen, selbst wenn sie gerade so schräg liegen, dass man ein zweites Brett einrasten lassen muss, um nicht aus der Koje zu kullern (so geschehen auf der Noorderlicht vor Spitzbergen, https://oceanwide-expeditions.com/de/unsere-schiffe/sv-noorderlicht). Das letzte mal übergeben musste ich micht mit sechs Jahren auf der Fähre nach Südschweden. Mein Privatrezept gegen flaues Gefühl im Magen: ein trockenes Brötchen und ein Glas Bier. Wissenschaftlich anerkannt ist hingegen Ingwer, gleich ob als Tee oder Bonbon. Natürlich habe ich inzwischen den Segelschein für Binnengewässer und das Bodensee-Schifferpatent. Und Tochter Lenja ist infiziert: den Optimistenschein hat sie schon, nächstes Jahr soll der erste Segelschein für Erwachsene folgen.

Wenigsten eine kleine Schifffahrt muss deshalb in jedem Urlaub dabei sein – und sei es auch nur eine popelige Kanalüberquerung mit einer winzigen Fähre. Und so ist es auch kein Wunder, dass ich am Tag, bevor ich im July ins Krankenhaus sollte, noch schnell mit Lenja eine Fahrt mit dem Neckarkapitän von Bad Cannstatt durch die Mühlhausener Schleuse und zurück gemacht habe – Dampferfahren als Schiffsglück für Arme eben. Wenn mein Kräuterglück dem nicht entgegenstünde, würde ich gern auf einem Hausboot leben…

Heute bin ich nicht mit einem Schiff, sondern nur mit der Deutschen Bahn unterwegs, begleitet von Bio-Lakritz, das mein Mann Klaus mir gestern geschenkt hat. Ich liebe Lakritz.  Anlass meiner Reise ist mein drittes Heilpraktiker-Seminar, für das ich in Sindelfingen keinen passenden Termin gefunden habe. Was lag also näher, als zum Seminar nach BERLIN zu fahren und dies gleich mit Besuchen bei meiner Stiefmutter und meiner Schwester zu verbinden, bei der ich wohnen werde?

Zugfahren ist auf jeden Fall schöner als Autobahnfahren (von unseren beiden letzten Greiz-Aufenthalten sind meine Familie und ich da noch leidgeprüft). Den ersten Teil der Zugstrecke kenne ich sehr gut: Mannheim – Frankfurt – Fulda – Eisenach – Erfurt (von dort aus würde ein Regionalzug direkt nach Greiz fahren). Dann geht es abenteuerlich weiter durch Sachsen nach Halle, Leipzig und schließlich Bitterfeld in Sachsen-Anhalt, bevor wir von Süden aus nach Berlin einfahren. Ich muss an die schrecklichen Demos der Nazis in Chemnitz und Köthen denken. Was ein Glück, dass wir unser Haus im thüringischen Greiz gekauft haben!

Im Gegensatz zu den Nazis habe ich keine Angst vor Fremden. Am liebsten möchte ich alle Länder dieser Welt kennenlernen. Dreieinhalb Staaten pro Jahr müssten es dafür dann allerdings schon sein, und 2018 war ich leider – auch wegen meiner Radiusfraktut und dem CRPS – noch nirgends. Bisher kann ich erst mit 29 besuchten Staaten aufwarten (DDR nicht mitgerechnet) – 194 plus 12 umstrittene gibt es jedoch. Nicht üppig also… Es ist nicht die Lust am Abhaken und damit Besitzen. Ich entdecke gern. Ich bin seeeehr neugierig (und damit sind wir dann wieder bei meinen Kernkompetenzen). Wenn ich etwas Neues sehe – höre – rieche – schmecke, bin ich glücklich. Monotonie (die Plattenbauten im ehemaligen Ostblock…) macht mich unglücklich.

Ursprünglich sollte dies hier ja nur ein veganer Bio-Reiseblog werden (alle drei Punkte machen mich glücklich), nun ist er mit dem Motto “Tagesreisen zu Glück und Schönheitssinn” doch umfassender als geplant – und ich brauche nicht über einzelne Bio-Teebeutel in irgendeinem blutigen Steakhaus berichten.

Und in diesem Moment:

Von Ferne grüßt die Wartburg Eisenach,
Eisenach, das ich noch nie gesehen, nur durchfahren hab,
Eisenach, das Klaus scheu gemieden, aus dem seine Mutter stammt.
Eisenach in Thüringen wie Greiz.
Back to the roots für Klaus, wenn wir nach Thüringen ziehn.
Thüringen, das ich hegen, pflegen und lieben will.