Sonntag, 5.8.2018: Greizer Karikaturen im Satiricum

Für ein Wochenende sind wir von Stuttgart ins thüringische Vogtland, nach Greiz gefahren – in die laut Krankenkasse glücklichste Stadt Deutschlands. Was macht die Greizer so glücklich? Nun, wir werden es herausfinden!

Zunächst einmal macht meinen Mann Klaus, unsere Tochter Lenja und mich glücklich, dass es heute ein wenig kühler ist als an den vorangegangen Tagen – deutlich unter dreißig Grad. Um zehn Uhr eilen wir in die Innenstadtkirche St. Marien zur ersten halben Stunde des Gottesdienstes. Sie wurde nach einem großen Stadtbrand 1805 klassizistisch wieder aufgebaut und ist heute evangelisch. Im Inneren zeigt sie sich in freundlichen Farben: viel weiß, zartgelb und orangebraun, eine fröhliche Kirche. Zu den Kirchenliedern spielt eine Kreutzbach-Orgel aus dem Jahre 1881, 1919 erweitert und mittlerweile eine der größten Thüringens. Der Pfarrer ist locker und unverkrampft. Liegt hier ein Teil der Greizer Glücks? Zumindest will der Aufsteller am Eingang es uns glauben machen: „Gott nahe zu sein, ist mein Glück“, verrät Psalm 73,28 – und das gilt ja vielleicht auch für den ein oder anderen unter Ihnen?

Dann gehen wir zum Greizer Hauptbahnhof, vorbei an Schaufenstern, die uns handschriftlich und mit Zeichnungen über berühmte Menschen unter dem Motto informieren: „Sie waren so… …frei…“. Wer war so frei? Die blinde Helen Keller zum Beispiel, der libertäre, hingerichtete Pädagoge Francesc Ferrer i Guàrdia oder die Fechterin und Opernsängerin Julie d`Aubigny. Wie ungewöhnlich für eine Kleinstadt von nur knapp 21.000 Einwohnern!

Am Bahnhof heißt uns ein Schild herzlich willkommen und wünscht uns allzeit gute Fahrt, und wir empfangen meine Schwester Gaby, die heute ihrer Erkältung zum Trotz aus Berlin angereist ist, um unser neuerworbenes Fachwerkhäuschen in Greiz-Rothental zu besichtigen. Wir würden uns freuen, wenn sie im Alter mit uns dort einzieht. Im Rothentaler Garten begrüßt uns zunächst einmal eine ausgewachsene Blindschleiche, dann erkunden wir die Gebäude. Ja, romantisch findet Gaby sie auch, aber wir merken ihr deutlich das Erschrecken ob des Renovierungsaufwands an – sie muss alles erst einmal sacken lassen.

Wir haben einen Mietwagen, und so hindert uns nichts daran, einmal kurz über die Grenze nach Sachsen zu fahren und das achte Weltwunder zu bestaunen: die Göltzschtalbrücke in Netzschkau. Einstmals war sie die größte Eisenbahnbrücke der Erde, heute ist sie immer noch unsere weltgrößte Ziegelsteinbrücke – ein Viadukt mit 78 Metern Höhe und sage und schreibe 98 Bögen. Beeindruckend!

Wir haben mittlerweile Hunger, und so setzen wir uns zurück in Thüringen und Greiz im Unteren Schloss im Restaurant „Harmonie“ auf die Terrasse nahe dem hiesigen Fluss, der Weißen Elster, genießen die Aussicht und erzählen. Lustig sind die Kloschlüssel für die Toiletten einmal quer über den Schlosshof: Sie sind an alten Esslöffeln befestigt! Hier wie überall im Städtchen zeigt sich: die Greizer sind ein freundlicher Menschenschlag.

Anschließend zeigen wir Gaby den Greizer Park (ein englischer Landschaftsgarten) und das ehemalige Sommerpalais der hiesigen Fürstenfamilie aus dem 18. Jahrhundert, beide national bedeutsam und deshalb in der Obhut der Thüringer Schlösser und Gärten. Im Satiricum des Palais‘ findet bereits zum neunten Mal die Triennale der Karikatur statt, diesmal betitelt mit „Alles lupenreine Demokraten“. Das Satiricum wurde 1975 als nationale Karikaturensammlung der DDR gegründet und übernahm zunächst einmal den reichhaltigen Fundus der fürstlichen Karkaturensammlung aus dem 17. bis 19. Jahrhundert, ergänzt durch Karikaturen aus dem Vormärz und der Revolution von 1848, Simplicissimus, Eulenspiegel, Titanic usw. Zu DDR-Zeiten der umfangreichste satirische Bilderfundus. Hier in Greiz, weil hier ja offenbar schon die Adligen einen Sinn für‘s Witzige hatten. Auch Plastikaturen, satirisch-humoristische Objekte, gilt es zu entdecken. Auf der diesjährigen Triennale stellen wirklich alle 76 deutschsprachigen Karikaturisten mit Rang und Namen aus: von A wie Renate Alf, über G wie Gerhard Glück, K wie Kriki, M wie Marunde, T wie Tetsche bis Z wie Bernd Zeller. Hier ist auf jeden Fall einer der Schlüssel für das Greizer Glück: spielerische Leichtigkeit und Humor.

Zum Schluss erkundige ich mich noch, ob die Bibliothek, die ebenfalls im Sommerpalais untergebracht ist, einen Lesesaal für die Öffentlichkeit hat. Sie hat, und mit ihren 40.000 Bänden in deutscher, englischer und französischer Sprache aus dem 17.-19. Jahrhundert werde ich hier für den Rest meines Lebens genug zum Schmökern und Entdecken haben.

Gegenüber dem Sommerpalais befindet sich das KÜCHENHAUS. Es beherbergt im Erdgeschoss ein Café mit eigener Rösterei (Brandt Kaffee) und den mit Abstand exquisitesten Genüssen unseres kleinen Wochenendausflugs: Für mich ist das die beste mexikanische Trinkschokolade meines Lebens, dazu ein veganer Großkeks der aussieht, als ob er aus Turin stammt, für die anderen zum Beispiel russischer Zupfkuchen, Käsekuchen mit frischen Johannisbeeren und Himbeer-Milchshake. Das alles dekoriert mit essbaren Chrysanthemen in lila, gelb und weiß. Himmlisch! Und: „Glück ist, wenn die Katastrophe eine Pause macht!“ philosophiert ein Schild hinter dem Tresen.

Allmählich heißt es nun, Abschied nehmen von Greiz und die Heimfahrt antreten. Vorab interessiert uns aber noch die Klinik im Leben nebst Garten des Lebens: Europas führende Klinik für naturgemäße, biologische Medizin seit über zwanzig Jahren – im Zentrum von Greiz. Krebs- und Schmerzmedizin, Fiebertherapie, Homöopathie, anthroposophische Medizin und vieles mehr bieten sie an. Wie hätten sie hier wohl mein Komplexes Regionales Schmerzsyndrom behandelt? 1.500 Ärzte, Apotheker und Heilpraktiker haben sich deutschlandweit zusammengeschlossen und unterstützen die Greizer via „Arbeitskreis im Leben“ und die „Gesundheitsstiftung im Leben“. Die Klinik können wir in der Kürze der Zeit natürlich nicht besichtigen, aber wir werfen vom Eingang und dem „Platz der Erdung“ aus einen Blick in den hübschen Garten und seine Bereiche, den Raum der Lebensfreude, die Anhöhe der Orientierung, den Raum der Transformation, den Spiegel der Selbstreflexion und den Garten der Früchte. Streng wissenschaftlich mag hier zwar vieles nicht sein, aber ein Gefühl von Ruhe und Glück vermittelt es durchaus. Gaby, die im Berliner anthroposophischen Krankenhaus Havelhöhe arbeitet, ist sehr angetan.

Unsere Heimfahrt gen Südwesten entwickelt sich zu einem stundenlangen Sonnenuntergang, gerahmt von den schwarzen Büschen und Bäumen links und rechts der Autobahn, zartgelb, hellblau, rosa, pink und orange. Außergewöhnlich und wunderschön. Kurz vor 23 Uhr geben wir die Schlüssel unseres Mietwagens ab und fahren mit Bus und Bahn nach Hause. Katze Kalas begrüßt uns freudig, meine Freundin Maja hat sich während unserer Abwesenheit sehr gut um sie gekümmert.

Samstag, 4.8.2018: Greiz – Zu Besuch in der glücklichsten Stadt Deutschlands

Ich bin in der Ex-Jugendherberge Langenwetzendorf kurz vor halb sechs Uhr aufgewacht und habe die frische, kühle Thüringer Luft genossen. Der kettenrauchende und Rauchmelder-auslösende Gast vom Vortag sitzt schon draußen, wartend, rauchend, und wird schließlich von einem weißen Lieferwagen abgeholt. Ich schaue zu, Stille trotz Auto, Entspannung, Mann und Tochter schlafen noch tief und fest. Vielleicht ist er Saisonarbeiter oder Monteur? Eine Taube gurrt, eine Amsel hüpft über den Rasen und die Kätzchen genießen das Leben in diesem Kätzchenparadies.

Bevor wir nach dem Frühstück gen Greiz starten, müssen wir noch eines herausfinden: Was ist eine Bio-Landschule? Langenwetzendorf hat nämlich nicht nur die Ex-Jugendherberge und ein Freibad mit Riesenrutsche, sondern eben auch eine Bio-Landschule. Leider verrät keine Tafel am historistischen Schulgebäude, was es mit dem Namen auf sich hat, und so muss ich die „Ostthüringer Zeitung“ im Internet zu Rate ziehen:

Für ihr Engagement für die Umwelt wurden 59 Schulen in Thüringen durch Umweltministerin Anja Siegesmund (Grüne) und Bildungsminister Helmut Holter (Linke) ausgezeichnet. Auch die Bio-Landschule in Langenwetzendorf hatte sich für die Schuljahre 2015 bis 2018 beim Wettbewerb um den Titel „Thüringer Nachhaltigkeitsschule – Umweltschule in Europa“ beteiligt. Mit Erfolg. Die Regelschule wurde seit 1999 ununterbrochen als Umweltschule ausgezeichnet, nun bekam sie zudem die Ehrung in der Kategorie „Gold“. Überzeugen konnten die Langenwetzendorfer nicht nur mit einem Projekt, sondern gleich mit mehreren, und durch die außerschulischen Kooperationen mit dem Bio-Seehotel, der Gemeinde sowie mit dem Imkerverein. So verweist (Lehrer) Tom Jungk nicht nur auf das Engagement von derzeit neun Schülern in seiner Öko-Gang, sondern auch auf die Pflege der Apfelhecke, ein Feuchtbiotop, in das eine Umweltpumpe eingebaut wurde, die Neugestaltung des Insektenhotels sowie auf Pflege- und Umgestaltungsarbeiten am Hochbeet der Schule.“

Donnerwetter! Trotz grün-schwarzer Landesregierung haben wir so etwas hier bei uns in Baden-Württemberg nicht. Da scheint das Thüringer Rot-rot-grün besser zu funktionieren. Ein Puzzlesteinchen auch zum Greizer Glück?

Aber nun fahren wir erst einmal nach Greiz-Rothental. Mein Mann Klaus hat hier nämlich vor ein paar Tagen „für‘n Appl und‘n Ei“ ein altes Fachwerkhaus mit Garten und Blick auf den hiesigen Fluss, die Weiße Elster, erworben. Hier werden wir wohnen, wenn wir in Rente gehen – aber vorher heißt es noch: vieeeel renovieren! In einem der Zimmer hängen Pflanzen zum Trocknen, wie gemacht für mich alte Kräuterfrau. Im Garten wachsen Salbei, Maiglöckchen, Pflaumen, Kirschen, Himbeeren. Das Klo ist noch ein Plumpsklo im Freien. Ich lasse mich darauf ein und übersehe einmal die auf uns zukommende Arbeit – dann ist es wunderbar romantisch hier! Klaus hatte natürlich alles vor Abschluss des Kaufvertrags besichtigt, aber für Tochter Lenja und mich ist es die erste Begegnung. Nicht nur wohnen wollen wir hier (vielleicht mit Klausens Bruder und meiner Schwester zusammen), sondern es soll auch ein „Bioglückshaus Greiz“ entstehen, mit Seminarräumen und öffentlicher Bibliothek.

Von der Straße „An der goldenen Aue“ (welch schöner Name!) werfen wir noch einen letzten Blick auf unser Wolkenkuckucksheim. Weil meine Hand immer noch stark lädiert ist seit meinem Unfall Anfang Mai, wollen wir das Wochenende nicht der Arbeit, sondern dem Erkunden der Greizer Schönheit und des Greizer Glücks widmen. Was also ist das Geheimnis der Greizer? Der vergoldete Spiegel und die Sonne, die an der Wand der Pizzeria „Da Papu“ hängen? Der Name erinnert mich an den Film „La Vita è bella“ des Komikers Roberto Benigni – der kleine Junge dort nennt seinen Vater „Papu“. Nun, nicht mehr als ein winziges Puzzleteilchen.

Neben der Pizzeria befinden sich der Biomarkt und die Peanuts-Biokneipe von Greiz. Sie haben beide nur von montags bis freitags geöffnet – wie überhaupt so einiges hier. Auch ein Grund für das Greizer Glück? Wahlspruch: „Eine Fünf-Tage-Woche ist auch für Selbständige mehr als genug.”?

Oder vielleicht hilft das Motto der Greizer im Prospekt der Tourist Information weiter: „Wir leben nur, um Schönheit zu entdecken. Alles andere ist eine Art des Wartens.“ (Khalil Gibran). Vielleicht passt dazu, dass der Autor dieser Zeilen eben nicht nur Autor, sondern auch Maler und Philosoph war, und dass er in zwei völlig unterschiedlichen Ländern lebte. Ein Weltenbürger.

Wir überqueren die Weiße Elster und gehen in das Untere Schloss. Greiz, die „Perle des Vogtlandes“, war früher einmal die Hauptstadt des aller-aller-allerkleinsten Fürstentums Deutschlands. Das hat ihm auf gerade einmal 21.000 Einwohner sage und schreibe drei prächtige Schlösser und einen mindestens ebenso prächtigen Schlossgarten verschafft. Plus auch heute noch etwas mehr Kultur, als ich von einer Kleinstadt erwarten würde. Verhilft Kleinteiligkeit zum Glück? Der Anarchist würde sagen: ja. Je größer und anonymer das Gemeinwesen, umso unglücklicher die Menschen. Herrschaftsfreiheit funktioniert am besten in überschaubaren Einheiten.

Im Unteren Schloss erkunden wir eine Textilschauwerkstatt. Im 19. Jahrhundert gab es in Greiz viele Spinnereien, Seidenwebereien und die höchste Millionärsdichte Deutschlands. Heute gibt es zum Beispiel noch die Firma www.blaudruck-greiz.de, und ich erstehe von ihr ein Lavendelsäckchen für meine Katze-hütende Freundin Maja in Stuttgart. Im Anschluss lockt die liebevoll gestaltete Sonderausstellung „Das Erbe der Buckelapotheker“ nebst einer Riesenmurmelbahn aus Holz. Ich erfahre, dass es ein Kräuternetzwerk Thüringen gibt (www.einfach-natuerlich.de) – und eine hohe Dichte an Kräuterfrauen und Heilpraktikerinnen direkt im Städtchen. Kräuterfrauen, die auch dichten und Bücher veröffentlichen, wie die Physiotherapeutin Cornelia Seidel. Und dass Kräuter glücklich machen – nun, das kann ich nur bestätigen.

Wir setzen uns in das zentrale Eiscafé Doimo am Puschkinplatz. Neben uns eine junge Familie mit zwei Kindern, die Mutter hochschwanger – und alle 4 ½ wirken glücklich und in sich ruhend. Im Anschluss hat Lenja uns zu einem 3D-Zeichentrickfilm überredet, das Kino ist um die Ecke. „Hotel Transsylvanien 3“ klingt nicht gerade nach „Kultur hoch 3“, aber Filmkunst gibt es nur alle ein bis zwei Wochen mittwochs, dafür dann aber auch vom Feinsten. Also Hotel Transsylvanien. Die Handlung ist erschreckend banal (warum um alles in der Welt haben Monster keine besseren Ideen für die Freizeitgestaltung als Kreuzfahrtschiffe, Pool, Glücksspiel und Disco?) – aber eine Tricks gefallen, einige Gags sind sogar lustig – und die Gesamtaussage: Menschen und Monster sind beide gleich gut und sollten in Frieden miteinander leben, die passt natürlich zu einer glücklichen Stadt wie Greiz.

Nach dem Kino gibt es noch die vielen, vielen Jugendstilhäuser in Greiz zu bewundern, von floral über symbolistisch bis Heimatkunst. Es sind so viele, dass Greiz Mitglied der internationalen, in Barcelona heimischen „Art Nouveau-Route“ ist, eine von 78 Städten auf der ganzen Welt, auf einer Ebene mit Antwerpen, Paris und Wien.

In der „Stadtmühle“ Greiz, im Herzen der Stadt neben dem Unteren Schloss und mit Blick auf den Fluss, genießen wir ausgezeichnete alkoholfreie Cocktails (ich sage nur: Spicy Ginger) und das bisher beste Essen unseres Mini-Urlaubs, Antipasti.

Ein kleiner Abendspaziergang führt uns noch durch die Anfangsgründe des Greizer Schlossparks bis hin zum Sommerpalais. Thüringen ist eh das artenreichste Bundesland, was die Flora anbelangt, und da lässt sich natürlich auch Greiz nicht lumpen, zwanzig verschiedene wilde Orchideenarten wachsen hier, und solch ausgefallene Pflanzen wie Arnika oder Großer Wiesenknopf. Aber auch mindestens ebenso seltene Tiere wie Kammmolch, Eisvogel, Wasseramsel, Uhu, Wildkatze, Kreuz- und Fischotter kann man hier mit etwas Glück beobachten. Für heute jedoch haben wir erst einmal an den Mücken genug und fahren zurück zu unseren „Drei Tannen“.

Freitag, 3.8.2018: Nacht-Rap und „Willkommen in Thüringen“

Um 3.24 Uhr wache ich auf und gehe auf den Balkon, um Sterne zu schauen. In Stuttgart ist das natürlich nur begrenzt möglich, zu viel Stadtlicht – selbst in der Nacht. Immerhin entdecke ich die Cassiopeia und darunter eine Chaiselongue, den Pegasus, wenn auch keine Sternschnuppen. Eine Fledermaus streicht so nahe an meinem Kopf vorbei, dass ich kurz erschrecke. Kalas rührt sich nicht.

Zurück im Bett komponiere ich einen Rapsong, wenn er auch nur aus zwei Zeilen besteht und eher Nonsense-Charakter hat:

<Mann steht vor dem Kaffeehaus gegenüber dem Olgahospital und singt:>

Ist unser Körper nur zum Kaffeetrinken da?“

<Computerstimme aus dem Off:>

Anpärrinn! Anpärrinn!“

<2x schnelles Händeklatschen. Da capo al fine, wobei diesmal das zweite Händeklatschen tiefer ist – durch hohle Hand.>

Meine Tochter Lenja ergänzt dann am Morgen eine zweite Stimme zum Anpärrinn:

<Mädchenstimme:>

Nein, isser nicht! Nein, isser nicht!“

Der neue Tag ist genauso heiß wie die vorhergehenden. Ich habe einen Arzt- und einen Ergotherapietermin, wir packen, und um drei Uhr nachmittags starten wir ab Hauptbahnhof mit einem klassisch-schwarzen Miet-Ford gen Nordosten, ins vierhundert Kilometer entfernte Thüringen. Mit der Bahn hätten  wir die Strecke um diese Uhrzeit (und mit der Hitzeproblematik) leider nicht mehr geschafft. Während unserer Abwesenheit wird meine Freundin Maja zusammen mit ihrer Freundin Heike unsere Katze einhüten. Gemeinsam wollen die beiden sich in Rosenbergs Gewaltfreier Kommunikation üben.

Unser Ziel in Thüringen: Greiz, die glücklichste Stadt Deutschlands, laut einer Untersuchung der Techniker Krankenkasse aus dem Jahre 2015. Prozentual betrachtet leben hier weniger Depressive als in allen anderen Städten unserer Republik!

Heute gelingt uns nur ein allererster Eindruck vom Auto aus: schön! Wir umrunden die Stadt und fahren weiter in die Waldherberge „Drei Tannen“ in Langenwetzendorf, mitten im Wald, oben auf dem Berg, ursprünglich ein Arbeiterwaldheim aus den Goldenen Zwanzigern analog zu denen bei uns in Stuttgart. Zwischendurch war es auch einmal eine Jugendherberge – und spottbillig ist es immer noch. Wir zahlen nur 20 € pro Nase und Nacht incl. reichhaltigem Frühstück!

Es ist recht still hier zwischen meinen drei Leibpflanzen: Kiefern, Birken und Rosen, ein Reh läuft über die Straße – und es gibt Unmengen von Kätzchen zwischen fünf Wochen und zwölf Jahren. Sie turnen überall herum, und fast alle lassen sich streicheln – Lenja strahlt. Die Herbergsmutter, Jacqueline Hendrich, ist ausgesprochen sympathisch, resolut, freundlich, aufgeschlossen, flexibel, eine Frau, die weiß, was sie will. Trotz der schon etwas vorgerückten Stunde können wir im Garten vor dem Haus essen, und sogar etwas Veganes wird für mich gebastelt – Salat mit gerösteten Sonnenblumenkernen und Bratkartoffeln. Mein Mann und ich haben ein Berliner Durchgangszimmer, Lenja bezieht die Kemenate im Anschluss ganz für sich allein – denn meine Schwester Gaby hat sich dermaßen erkältet, dass sie heute nicht aus Berlin zu uns stoßen konnte.

Ich bin gespannt auf die beiden Thüringer Tage, die vor uns liegen!

Donnerstag, 2.8.18: Gymnastik mit Katze

Heute Nacht hat es gewittert und geregnet, und der Vormittagshimmel zeigt rötliche Streifen, obwohl die Sonne schon weit oben steht.

Unsere Katze Kalas schläft wie üblich auf dem Balkon – und freut sich jeden Morgen, wenn wir die Tür öffnen. Sie ist etwa so alt wie unsere vierzehnjährige Tochter Lenja und kam 2009 zu uns: Eines schönen Morgens schlug ich der Familie vor, doch einen schwarzen Kater anzuschaffen, nach dem Motto „Es ist gut für Kinder, mit einem Haustier aufzuwachsen.“ Gesagt, getan. Die Stuttgarter Katzenhilfe vermittelte uns die Anschrift eines Tierarztes in Gerlingen, und wir fuhren hin. In einem kleinen Zimmer lungerten gewiss zwanzig herrenlose Tiere vor verschiedenen Fressnäpfen, darunter auch ein schwarzer Kater – aber der Tierarzt meinte zu Recht, wir sollten besser eine Weile in dem stinkenden Zimmer bleiben und uns in die Katzen einfühlen, nicht alle seien für Familien geeignet. Der Schwarze hatte sich uns bereits auserkoren, benahm sich aber sehr herrisch und aufbrausend gegenüber seinen Mitlebewesen. Und dann gab es eine Katze, die schnurrte laut vor sich hin. Überhaupt nicht mein Fall, eine 08.15-getigerte Europäisch Kurzhaar – aber sie ist es geworden. Der Schwarze war massiv beleidigt…

Mein Mann Klaus gab ihr den Namen Kalas, weil ihm die beiden Silben so gut gefielen. Kalas lebte ursprünglich auf einem Bauernhof, bis sie vom Traktor angefahren wurde. Die Kiefer-OP hätte den Bauern hundert Euro gekostet, und also wollte er sie einschläfern lassen – nun kam sie zu uns.

Sie ist die lauteste Schnurrerin, die ich je kennengelernt habe, sie schnurrt viel und lange und ist überhaupt mindestens genauso kommunikativ wie eine Siamkatze. Sie kratzt nicht, sie beißt nicht, und bei außergewöhnlich begabten Katzenkraulern sabbert sie sogar manchmal vor Glück.

Was sie aber besonders liebt, ist meine schamanisch-meditative Yoga-Tai-Chi-Morgengymnastik, vor allem den Teil, der auf dem Berberteppich stattfindet. Wenn ich meine Luchs-Übungen mache, kuschelt sie sich am liebsten ganz eng an mich, und rutscht möglichst noch zwischen meine Knie und die aufgestützte Hände, zumindest mit dem Schwanz. Durchaus beliebt ist es bei ihr auch, sich beim „Baum“ genau unter das Bein zu stellen, das gerade in der Luft ist und irgendwann gerne einmal wieder Kontakt mit der Erde haben würde. Morgengymnastik unter erschwerten Bedingungen also! Aber Kalas ist eben eine sehr gesellige Katze, und so stelle ich mir auch das Volk vor, nachdem wir sie benannt haben: die Kalas / Kalash im Hindukusch (Pakistan), Nachfahren von Alexander dem Großen, mit hellen Augen und einer sehr archaischen Religion. Irgendwann kauften wir für Lenja auch einmal eine handgenähte Kalasha-Puppe auf einem „Markt der Völker“, das ist also die Namensschwester unserer Katz‘.

Der Tag ging griechisch weiter: Für meine medizinische Fußpflege zeichnet Ioannis Ioannidis verantwortlich, ein netter junger Man mit dicken, geraden Haaren, schwarzer Hornbrille, äußerst maskuliner Behaarung und den Unterarmen eines Bauarbeiters. Zum Glück arbeiten Ioannidis‘ Geräte mit Wassernebel, sehr angenehm bei den derzeitigen Temperaturen. Seine Mutter ist klein und kugelrund und fröhlich und kümmert sich um die Terminplanung. Und ich habe wieder für die nächsten vier Wochen schöne Füße.

Zweimal hatte ich heute das Vergnügen, von der Kirchheimer Straße aus hinunter nach Hause zu laufen (unser Erdbeer-Bus fährt nur alle dreißig Minuten). Ein Vergnügen ist es wirklich, denn auf meiner Seite der Gartenzäune lugen Melissen- und Fenchelblätter hervor, die zwischen den Fingern gerollt und beschnuppert werden wollen, Brombeeren wachsen mir fast in den Mund, die ersten Äpfel wandeln sich zu Fallobst, auch die ersten Pflaumen sind reif, und sogar eine Holunderbeere und eine Kornelkirsche konnte ich naschen. Schlaraffenland!

 

Mittwoch, 1.8.2018: Von der Schönheit des Regens an Birkenblättern

Seit Wochen herrscht Dürre bei uns in Deutschland, der Klimawandel geht mit massiven Ernteausfällen einher. Die Temperaturen in Stuttgart klettern tagsüber selbst im Schatten bis auf knapp 40°C, und auch in den Nächten kühlt es kaum ab. Die Grillen zirpen um die Wette, ganz wie im Urlaub. Erst gegen vier Uhr morgens schlafe ich ein.

Als aber um sieben Uhr der Wecker klingelt, dringt ein milchig-gelbes Licht durch die Balkontür auf unser Tatami-Bett, weicher als der strahlendblaue Himmel der letzten Tage. Das Milchgelb wandelt es sich allmählich in grau, und dann geht es auch schon los:

Meine Balkonpflanzen sind begeistert, und diesmal ist es kein magischer Sinau von den Blatträndern, der sich hier in der Mitte meines Frauenmantels, meiner kleinen Alchemistin sammelt, sondern schlicht Wasser von oben.

Mein Mann Klaus bringt uns mit Cardamom gewürzten Espresso ans Bett. Auf dem Boden der Becher steht „Küss mich“. Wir tun es.

Die Erfrischung draußen ist so schön, dass ich mit nackten Füßen auf dem Balkon herumlaufe. Sogar in den Untersetzern der Tontöpfe sammelt sich der Regen. Ein Morgen ganz nach meinem Geschmack, trotz Müdigkeit. Und gewiss die Rettung für viele Lebewesen vor unserer Tür.

Dann kommt die liebe Sonne wieder, und wir halten mit Glückstee, Eiswürfeln und Bio-Mangosorbet gegen. Das Leben genießen: Ja, bitte!

Dienstag, 31.7.2018: Der Duft von Bienenwachs

 

Die erste Nacht wieder zu Hause in Stuttgart-Sillenbuch verlief seltsam: Immer, wenn ich aufwachte, glaubte ich zunächst, noch im Karl-Olga-Hospital zu sein – das offene Fenster links von mir, die Zimmertür verborgen hinter einem Vorsprung rechts von mir: an beiden Orten dieselbe Aufteilung.

Traum und Wirklichkeit vermischten sich – ich will heute über Bienenwachs schreiben, aber was hat das mit der Aboriginees-Gruppe Yothu Yindi zu tun, die in der Krankenhauslektüre auftauchte, und von der ich hier daheim eine CD habe? Sie hat keinen Musiktitel über Bienen oder Wachs geschrieben, wenn auch das Mundstück meines Eukalyptus-Didgeridoos aus Bienenwachs ist. Doch im Halbschlaf, da war die Verbindung eine ganz selbstverständliche.

Zunächst aber hieß es heute erst einmal, einen Teil meines Alltags zurück zu gewinnen, soweit das mit einer Hand, die trotz Opiaten erst zu 30% wieder funktioniert, eben möglich ist. Ich war im Krankenhaus, in der Ergotherapie, kurz in der Schule, bei der SparDa, bei Alnatura und beim niedergelassenen Chirurgen. Nun wieder daheim, am bisher heißesten Tag des Jahres, draußen bei meiner Tochter Lenja auf der Südseite des Hauses sind es mittlerweile über 42°C, hier drinnen knapp 27°.

Ich habe mir endlich wieder einen Epresso ganz nach meinem Geschmack gekocht, wenn es auch von der Kraft her fast nicht möglich war: Bio-Espressobohnen aus dem Kühlschrank geholt und in der Messingmaschine mit der Hand gemahlen. Auf den Boden des DeLonghi-Siebträgers kommen Cardamom-Samen aus vier bis fünf Hülsen, darüber das Pulver, nicht allzu fest gepresst. Hmmm!

Aber warum Bienenwachs? Gestern ziepte den Opiaten zum Trotz die OP-Narbe, und mir fiel nicht ein, wohin ich die Bepanthensalbe aufgeräumt hatte. Also versuchte ich es im Badezimmer mit „Bienen-Erich‘s Hautsalbe mit Propolis“ (Olivenöl, Bienenwachs, Avocadoöl, Propolis, Aloe Vera, Hamamelis), eigentlich mal für Klaus gekauft, aber er nutzt sie kaum. Sie roch wunderbar und half sofort.

Ich liebe Bienenwachs. Die Kerzen auf unserem alljährlichen Weihnachtsbaum (für mich alte Berlinerin am besten eine Kiefer) enthalten fast immer wenigstens zehn Prozent Bienenwachs, ich habe Bienenwachskerzen in große Ostseemuscheln hineingegossen, ich mache meine Salben und Cremes mit Bienenwachs. Ich besitze einen gewachsten Rock und eine gewachste Jacke. Es dient als Wärmepackung bei Husten und Erkältung sowie gegen Schmerzen der Muskeln und Gelenke. Ein anderes Wachs als das der Biene half mir bei den Olgaschwestern über die Nächte: Ohropax mit Paraffin. Ohne Duft, wie schade.

Ich liebe auch Tannenhonig, aber das Bienenwachs ist mir noch wichtiger. Was bedeutet mir sein Duft?

Das allerschönste, nicht vom Aussehen, sondern vom Duft her, ist das Wachszimmer von Wolfgang Laib im Untergeschoss des Stuttgarter Kunstmuseums am Schlossplatz (Wohin bist du gegangen – wohin gehst du?). Es ist eng im Wachsgang, die Besucher treten einzeln ein und sprechen sich miteinander ab. Früher einmal lag neben seinem begehbaren und beleuchteten Bienenwachszimmer ein riesiger Lavendelteppich, und die Kombination dieser beiden Elemente war schlicht betörend. Vielleicht hatte sich der Lavendel irgendwann ausgeduftet, jedenfalls existierte dann nur noch das Bienenwachs-Zimmer. Und wer weiß, vielleicht ist das Zimmer inzwischen auch auf Wanderschaft in einem anderen Museum und hier bei uns in Stuttgart durch ein neues Blütenstaub-Pollen-Wachs-Reis-Milch-Marmor-Kunstwerk Laibs ersetzt? Sogar die, die sich Experten nennen, schwärmen: Welt aus Wachs und Blütenstaub, die Schönheit des Blütenstaubs, die Kunst der Ruhe, das Licht der Bienen, die außerweltliche Ruhe. Das wundersame Werk des Wolfgang Laib.

Der wundersame Duft und die Schönheit des Bienenwachses. Für mich, für dich. Und zumindest, was ein anderes Produkt der Biene, eben den Honig, anbelangt, in gewisser Weise auch meine Berufung: Mein erstes schamanisches Krafttier, das selbstgefundene, ist der Eurasische Luchs. Er steht für mich, meine Persönlichkeit. Das zweite Krafttier wurde mir von einer weiteren Teilnehmerin eines Workshops vor vielen Jahren geschenkt: die Braunbärin. Sie brachte mir jedoch keine Kraft, Weitsicht oder ähnliches aus dem Wald mit, sondern ganz schnöde: Honig! Nahrungserwerb, Essen, die Süße des Lebens. Mein Leben, meine Berufung, mein Beruf, meine Aufgabe. Die Mutterbärin ernährt mich mit süßem Honig. Wie soll mein Leben da nicht spannend und wunderschön sein? Wunden heilen mit Manuka-Honig, Viren und Krebs besiegen mit Propolis, Schmerzen lindern mit Wachs – Geschichten also von Schönheit und duftendem Glück. Da strahle auch ich gern wie ein Honigkuchenpferd!

Montag, 30.7.2018: Fräulein Smillas Gespür für Schnee

Es gibt nicht viele Krimis, die ich gerne mehrfach lese, Peter Hoegs Smilla ist einer davon. Ich hatte ihn mir ins Hospital mitgenommen, weil wir unter einer Hitzeperiode leiden, und Smilla hat mir schon vor einigen Jahrzehnten in Israel dagegen geholfen.

Das Buch handelt eigentlich von Schönheit: Der Schönheit des Eises, der Schönheit der Mathematik. Aber auch von den Aggregatzuständen des Wassers, der Schönheit des Kaffeekochens und dem lustvollen Essen.

Mein Mann Klaus und meine Tochter Lenja holen mich vom Karl-Olga-Hospital ab. Die ersten Schritte nach fast auf die Stunde genau zwei Wochen Krankenhaus sind etwas wackelig, zumal schon am späten Vormittag die Hitze drückt und leichter Schwindel zu den üblichen Nebenwirkungen meines Opiats, Oxycodon, gehört.

Ich bin genau so lange im Krankenhaus geblieben, wie ich es innerlich brauchte, nicht einen Tag zu lange, nicht einen zu wenig. Ich bin zufrieden, dankbar und tatsächlich glücklich. Und ich habe viel gelernt.

Nach dem Besuch beim Hausarzt und der Apotheke steuern wir noch unseren hiesigen Bioladen „Naturgut“ an – ich sehne mich nach Bio und nach einem spannenderen und besser gekochten Essen, als das Krankenhaus mir bieten kann (wo sie immerhin für mich alles vegan zubereitet haben). Bei Froeken Smilla steht das Gericht auf Seite 118, und ich bitte Klaus, eine vegane Variante davon gleich mittags für uns zuzubereiten: japanisches Tofufilet mit Meersalz statt Fisch, dazu Reis mit Cardamom und Anis sowie gekochtes Gemüse: Fenchel, Karotte und Lauch. Es schmeckt himmlisch!

Sonntag, 29.7.2018: Der närrische Gauchheil auf der Dachterrasse

Dank der schnarchenden Babuschka habe ich zwei fast schlaflose Nächte im Stuttgarter Karl-Olga-Hospital hinter mir und fühle mich nicht weniger gauchig als die Narrenpflanze zwei Stockwerke über mir. Die Gewitterblume, das Heil aller Welt, die Nebelpflanze, das magische Neunerblümle, das Vernunftkraut, das Wetterkraut. Scarlet Pimpernell. Es gibt nur ganz wenige Blumen, die an einer Pflanze rote und blaue Blüten tragen – außer meinem kleinen Gauchen fällt mir nur das Lungenkraut ein – hier können die Insekten anhand der Blütenfarbe (basisch-blau / sauer-rot) sehen, ob noch Nektar vorhanden ist. Bei meinem Narren wohl auch?

Er ist eine ziemlich giftige Pflanze und würde, wenn ich ihn äße, meine Krankheitssymptome massiv verschlimmern: Ausschlag, Übelkeit, Kopfschmerzen, Durchfall, Entzündungen des Verdauungskanals und leichte Narkotisierung – all dies habe ich auch ohne ihn.

Der Acker-Gauchheil ist eine Wetterpflanze, denn die Blüten öffnen sich nur bei Sonnenschein von 7 oder 9 Uhr bis 14/15 Uhr. Wenn Unwetter aufkommt, schließen sie sich. Es ist Mittag, und die Sonne brennt vom Himmel. Er blüht. Das Volk fasst seine ungewöhnlichen Eigenschaften in diesem Spruch zusammen:

Blümlein Gauchheil rot und blau

bei drohenden Wolken beschau!

Will es regnen, so gehen sie zu.

Hast du Gefahr, so eile du!

Früher galt er als Heilpflanze gegen Geisteskrankheit und Dummheit (Gauch = Gaukler, Narr, Kuckuck oder Tor). Auch Gespenster sollte er – im Stall aufgehängt – vertreiben können. Die alten Griechen setzten die Pflanze gegen Melancholie ein. Selbst Geschwüre wurden früher mit dem Gauchheil behandelt, ebenso wie Wunden, Zahnschmerzen und Nasenprobleme.

Wenn sie gegen Tollwut helfen soll, muss die Pflanze am Johannistag (24. Juni) gepflückt werden. Das Hexendatum ist für dieses Jahr schon passé, aber ich bin ja auch nicht gebissen worden.

Für Heiratslustige in Südtirol ist die Johannisnacht vor dem 24.6. bedeutungsvoll. Das Mädchen braucht während des Abendläutens nur mit der rechten Hand schnell einen Kranz zu winden und nachts unter das Kopfkissen zu legen, dann erscheint ihr im Traum das Bild des Geliebten. Im Sarntal gehört dazu das „Goschal“ (der Gauchheil oder auch die Schafgarbe). Die Pustatalerinnen werfen den Kranz auf die Bäume.

Im Roman „The Scarlet Pimpernel“ von Baronin Orczy schließlich retten englische Aristokraten während der Französischen Revolution mögliche Opfer. Ihr Erkennungszeichen ist der Acker-Gauchheil, das Narrenkraut der Rettung.

Mir verhilft das Vernunftkraut heute – an meinem letzten vollen Tag im Krankenhaus, zu einer Entscheidung. Babuschka ist fort und in meinem Zimmer himmlische Ruhe eingekehrt, und bei einem Dösen morgens oder tagsüber war ich schon häufiger besonders kreativ: Ich werde mich von nun an ernsthaft dem Glück und der Schönheit und dem Entdecken widmen, schreibend.

 

Samstag, 28.7.2018: Gelbkopf-Amazonen in Bad Cannstatt

 

Während draußen vor dem Krankenhausfenster unsichtbar aber lautstark die Sittiche durch die Robinie schreien (sie sind vor biblischen dreißig Jahren aus dem hiesigen Zoo, der Wilhelma, ausgebrochen), schnarcht im Bett neben mir die russische Großmutter weiter fröhlich vor sich hin. MDR-Klassik dringt aus den Kopfhörern, die barocke Opernarie vorhin quietschte und knirschte, aber jetzt ist eine Art chinesische Kaufhausoper angesagt, die mit der Qualität der Hospital-Kopfhörer deutlich besser harmoniert. Im Gegensatz zu den erstickend heißen letzten Tagen weht heute ein angenehm kühler Wind durch das Krankenhauszimmer und umschmeichelt meinen Körper. Verkehrsgeräusche dringen von der Straße herauf. Keine Chance zum Schlafen, aber eine umso größere für einen Neubeginn, für (m)ein Leben, das dem persönlichen Entdecken von Schönheit in allen Facetten gewidmet sein soll. Nein, das geht nicht ganztags in einem Büro, das geht mit Reise- und Entdeckungsjournalismus.

Ich denke an die Nacht gestern, an die Jahrhundert-Mondfinsternis, an den flachen Blutmond, und wie unser Trabant am Ende gleich einer milchgelben Kugel durch das Weltall schoss, zum Anfassen schön. An den alten Musikprofessor im Dunkeln neben mir, den ich wahrscheinlich nicht wiedersehen und auch gar nicht wiedererkennen würde. Ich denke an meinen toten Vater und daran, wie sehr ihm diese magische Nacht wohl gefallen hätte.

Ein Neubeginn im Krankenhaus, im Hospital der Olgaschwestern, mit vielen Originalbildern an den Wänden, nicht alle künstlerisch wertvoll, aber alle authentisch. Ein Bio-Obstkörbchen von meiner Freundin Maja steht im Kühlschrank, mit meinen geliebten saftigen Pfirsichen, mit Pflaumen, Weintrauben und Aprikosen und zwei süßen Reineclauden aus meinem eigenen Garten.

Www.pfeiferin.de wird nun also doch zu einem Reiseblog, zum Entdeckerblog, aber nicht nur von bio + vegan, denn die sind nur ein Teil von Schönheit und Rosenduft, wenn auch kein ganz unwichtiger.

Das Zimmer hier geht nach Westen, und allmählich stehlen sich gen Sonnenuntergang ein paar milchige Strahlen unter der Wolkendecke hervor. Das neue Leben beginnt kurz vor 20 Uhr und nur wenige Tage vor dem 5. August, dem Tag, an dem mein Mann Klaus und ich uns vor sechzehn Jahren kennengelernt haben. Es startet in einem orangenen Freie-Aktive-Schule-T-Shirt und einer quietschgrünen Klettershorts mit Regenbogenstickerei. Es startet mit einem Beutel Bio-Glückstee von Sonnentor. Es beginnt mit einem lädierten Körper und einem begeisterten, begeisternden Geist – und das liegt nicht an den Opiaten, die ich seit einigen Tagen nehme!

Freitag, 27.7.2018: Mondfinsternis über dem Karl-Olga-Hospital

Manchmal stellt das Glück mir ein Bein und wirft mich auf mich selbst zurück: Ich muss für zwei Wochen ins Krankenhaus wegen eines Komplexen Regionalen Schmerzsyndroms. Ja, das ist ein bisschen wie ein Klosteraufenthalt – Zeit, nach mir selbst zu schauen. Ich genieße die Zeit. Was will ich mit den nächsten 52 Jahren meines Lebens anfangen, was macht mich glücklich? Im Beruf, der Freizeit, mit der Familie?

Der Psychologe Martin Seligman verrät es mir: Alles, was meine lachende Neugier und meinen Lerneifer befriedigt, die Liebe zu meinem Mann (und meine Fähigkeit, mich von ihm lieben lassen), Klugheit und Besonnenheit, mein absoluter Schönheitssinn, mein Optimismus und meine Spiritualität.

Wie aber kann ich das mit meinem Beruf verbinden? Nun, indem ich über alles Schöne schreibe, das ich entdecke. Zum Beispiel heute Nacht auf der Dachterrasse des Karl-Olga-Hospitals mitten in Stuttgart. Es ist die längste Mondfinsternis dieses Jahrhunderts, anderthalb Stunden dauert sie, bei sternenklarem Himmel und einem strahlenden Mars rechts unterhalb unseres Trabanten.

An Schlaf wäre eh nicht zu denken, denn in das zweite Bett meines Doppelzimmers haben sie in dieser Nacht eine russische Babuschka mit deutschem Familiennamen und den Körpermaßen und Schnarchgeräuschen eines Walrosses einquartiert – sie spricht fast kein Wort Deutsch und starrt die meiste Zeit mit kleinen, eisblauen Augen mal schweigend mal murmelnd vor sich hin. Also zwei Stockwerke nach oben fahren, auf dieser Terrasse war ich noch nie!

Zunächst aber muss ich den Mond suchen, denn am Horizont ist es noch ein wenig dunstig, und in welche Himmelsrichtung soll ich schauen? Schließlich kommt mir die Logik zur Hilfe: Wo die Sonne untergegangen ist, weiß ich, und wenn der Mond im Erdschatten liegt, muss er in der entgegengesetzten Richtung, im Osten, zu suchen sein. Und da steht er auch, fahl und blutig. Natürlich bin ich nicht allein. Auch andere laufen hin und her, gern mit Handys am Ohr. Eine Mittvierzigerin stellt sich einen Meter neben mich und kommentiert ihrer Telefonpartnerin, welche sich auf der Toilette oder im Bad befindet, im breitesten Schwäbisch jedes Detail. Leider verlässt ihr Pendant das Stille Örtchen nicht, und so ist den Banalitäten schier kein Ende gesetzt.

Schließlich kommt mir eine Idee: Mein Vater hatte sich im vergangenen Jahr zu seiner Beerdigung alle Strophen von Matthias Claudius‘ „Der Mond ist aufgegangen“ gewünscht. Ganz alle fallen mir nicht mehr ein, aber doch viele, und ich fange an zu singen. Instinktiv geht die Dame davon. Stattdessen stellt sich ein alter Herr im gestreiften Hemd neben mich, fast nur ein Schatten. Hat er einen weißen Bart?

Matthias Claudius, das singt doch heute leider niemand mehr!“

Sie hören doch, dass ich es singe!“

Ja, aber die jungen Leute kennen das Lied nicht mehr!“

Meine Tochter schon!“

Kennen Sie „Abendstille überall?““

Ich fange an, es zu singen, schaffe aber die hohen Töne nicht (ich bin halt nicht eingesungen in dieser Nacht) und muss mich entschuldigen. Zu meinem inneren Erröten stellt sich heraus, dass er ein pensionierter Musikprofessor ist, der im selben Stadtteil wohnt wie ich, Spezialist für Mendelssohn-Bartholdy. Seine Mutter war Pianistin und spielte die jüdischen Komponisten auch vor Wehrmachtsoffizieren und Generälen, während er bei ihren Konzerten heimlich unter dem Flügel saß. Als er 1945 acht Jahre alt war, mussten sie aus Polen fliehen. Seine Tochter hat ihn nun gebeten, seine Kindheitserinnerungen aufzuschreiben. Er sieht den Untergang des Abendlandes unaufrinnbar auf uns alle zukommen, weil niemand sich mehr ausreichend mit den Klassikern und Romantikern beschäftigen würde, wie er meint. Auch hier muss ich ihm widersprechen, denn an Waldorfschulen wird das ja durchaus noch gepflegt, und auch mein eigenes Kind interessiert sich dafür. Nein, die Mehrheit der Bevölkerung ist das nicht, aber das Bildungsbürgertum war noch nie die Mehrheit der Bevölkerung.

Wir stehen ans Geländer gelehnt und schauen dem Mond zu, und natürlich kennt er „Zwei Männer in Betrachtung des Mondes“ von Caspar David Friedrich, auch wenn nun hier ein Mann und eine Frau stehen und die Stimmung über den Dächern von Stuttgart eine ganz andere ist als die seinerzeit auf Rügen, es war doch Rügen? Und natürlich kenne ich „Peterchens Mondfahrt“ und habe es auch meiner Tochter vorgelesen.

Ein verzaubertes, surreales Gespräch, es schwebt wie der Mond über den Himmel hinweg, schwerelos und ohne Konsequenzen. Schließlich ist der Mond keine rotblasse, flache Scheibe mehr, sondern milchgelb und kugelrund, als ob wir ihn im nächsten Augenblick anfassen könnten, als ob er Teil eines Modells „Unser Sonnensystem“ wäre, mit kleinen Bällen in verschiedenen Farben. Oder eine Kugel Vanilleeis, bitte!

Wir stellen zur selben Zeit fest, dass es 23.07 Uhr ist und wir beide um 23 Uhr unsere Medikamente auf den Zimmern hätten einnehmen sollen. Er strebt nach links davon, ich nach rechts, und wahrscheinlich werde ich ihn bei Tageslicht nicht wiedererkennen.